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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Daß Preußen seiner Politik auf diese Weise eine Wendung gab, die ihm
England entfremdete, dem es nur darum zu thun war, Rußland vom Herzen
Europas fernzuhalten und darum die Wiederherstellung Polens unter russischer
Oberherrschaft zu vereiteln, ist vielfach getadelt worden, und nicht mit Unrecht.
Indeß war, wie Bernhardi zu bedenken giebt, die Lage Preußens in der That
eine schwierige. England war immer eigennützig und unzuverlässig gewesen, und
der Tory Castlereagh neigte viel weniger zu Preußen, das einer freisinnigen
Entwicklung zustrebte, als zu Oesterreich hin. Letzteres willigte nur mit starkem
Widerstreben in die Vereinigung Sachsens mit Preußen. Frankreich wider¬
sprach derselben geradezu. "Kam es zu einem europäischen Kriege, an dem
Preußen gegen Nußland theilnahm, so wagte möglicherweise niemand, ihm den
Besitz Sachsens streitig zu macheu. Anders konnte sich die Sache verhalten,
wenn der Kaiser Alexander zu friedlichem Ausgleich in eine Theilung des
Herzogthums Warschau willigte. Dann wurde gewiß von vielen Seiten der
Einwand erhoben, daß Preußens gerechten Ansprüchen durch seine Erwerbungen
in Polen Genüge geschehen sei, und es ist zum mindesten sehr zweifelhaft, ob
England alsdann noch ein Aeußerstes daran gesetzt hätte, ihm Sachsen zu ver¬
schaffen. Eine starke Vergrößerung nach Polen hin war aber für den preußi¬
schen Staat -- wie oben schon angedeutet -- unter allen Umständen von sehr
zweifelhaftem Werthe, und sie mußte geradezu verderblich werden, wenn dieser
Staat nicht zu gleicher Zeit eine entsprechend größere Ausdehnung und festere
Stellung innerhalb Deutschlands gewann. slawische Elemente in größerem
Maße in den Staatsverband aufgenommen, eine zahlreichere polnische Adels¬
bevölkerung, noch mehr slawische und katholische Kleriker, ein unheilbar krankes
Glied im Organismus, das find Dinge, welche den Vortheil einer etwas bes¬
seren militärischen Grenze bei weitem überwogen hätten." Wie man darüber
aber auch urtheilen möge, ein unverzeihlicher Fehler war es ohne Zweifel, daß
die preußische Regierung sich der Unterstützung ihrer Forderungen dnrch Ru߬
land, auf das sie jetzt allem noch rechnen durfte, nicht in bestimmt bindender
Form zu versichern bemüht war, und dieser Fehler sällt hauptsächlich Harden-
berg zur Last.

Die uoch folgenden Verhandlungen über die Angelegenheit können wir nur
kurz erwähnen. Die russische Widerlegung der Note Castlereaghs beantwortete
dieser im wesentlichen damit, daß Verträge durch spätere, nicht vorhergesehene
Erfolge nicht aufgehoben werden könnten, daß also der Umstand, daß Preußen
und Oesterreich nach andern Seiten hin Gebiete erworben hätten, dem Kaiser
nicht das Recht gebe, die Verträge von Kalisch und Reichenbach in Betreff
Polens für erloschen zu betrachten und allein über das Herzogthum Warschau
zu verfügen. Das Interesse Europas erheische, daß Preußen und Oesterreich


Daß Preußen seiner Politik auf diese Weise eine Wendung gab, die ihm
England entfremdete, dem es nur darum zu thun war, Rußland vom Herzen
Europas fernzuhalten und darum die Wiederherstellung Polens unter russischer
Oberherrschaft zu vereiteln, ist vielfach getadelt worden, und nicht mit Unrecht.
Indeß war, wie Bernhardi zu bedenken giebt, die Lage Preußens in der That
eine schwierige. England war immer eigennützig und unzuverlässig gewesen, und
der Tory Castlereagh neigte viel weniger zu Preußen, das einer freisinnigen
Entwicklung zustrebte, als zu Oesterreich hin. Letzteres willigte nur mit starkem
Widerstreben in die Vereinigung Sachsens mit Preußen. Frankreich wider¬
sprach derselben geradezu. „Kam es zu einem europäischen Kriege, an dem
Preußen gegen Nußland theilnahm, so wagte möglicherweise niemand, ihm den
Besitz Sachsens streitig zu macheu. Anders konnte sich die Sache verhalten,
wenn der Kaiser Alexander zu friedlichem Ausgleich in eine Theilung des
Herzogthums Warschau willigte. Dann wurde gewiß von vielen Seiten der
Einwand erhoben, daß Preußens gerechten Ansprüchen durch seine Erwerbungen
in Polen Genüge geschehen sei, und es ist zum mindesten sehr zweifelhaft, ob
England alsdann noch ein Aeußerstes daran gesetzt hätte, ihm Sachsen zu ver¬
schaffen. Eine starke Vergrößerung nach Polen hin war aber für den preußi¬
schen Staat — wie oben schon angedeutet — unter allen Umständen von sehr
zweifelhaftem Werthe, und sie mußte geradezu verderblich werden, wenn dieser
Staat nicht zu gleicher Zeit eine entsprechend größere Ausdehnung und festere
Stellung innerhalb Deutschlands gewann. slawische Elemente in größerem
Maße in den Staatsverband aufgenommen, eine zahlreichere polnische Adels¬
bevölkerung, noch mehr slawische und katholische Kleriker, ein unheilbar krankes
Glied im Organismus, das find Dinge, welche den Vortheil einer etwas bes¬
seren militärischen Grenze bei weitem überwogen hätten." Wie man darüber
aber auch urtheilen möge, ein unverzeihlicher Fehler war es ohne Zweifel, daß
die preußische Regierung sich der Unterstützung ihrer Forderungen dnrch Ru߬
land, auf das sie jetzt allem noch rechnen durfte, nicht in bestimmt bindender
Form zu versichern bemüht war, und dieser Fehler sällt hauptsächlich Harden-
berg zur Last.

Die uoch folgenden Verhandlungen über die Angelegenheit können wir nur
kurz erwähnen. Die russische Widerlegung der Note Castlereaghs beantwortete
dieser im wesentlichen damit, daß Verträge durch spätere, nicht vorhergesehene
Erfolge nicht aufgehoben werden könnten, daß also der Umstand, daß Preußen
und Oesterreich nach andern Seiten hin Gebiete erworben hätten, dem Kaiser
nicht das Recht gebe, die Verträge von Kalisch und Reichenbach in Betreff
Polens für erloschen zu betrachten und allein über das Herzogthum Warschau
zu verfügen. Das Interesse Europas erheische, daß Preußen und Oesterreich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/192>, abgerufen am 25.08.2024.