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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Schlüsse seiner Deduction, der Kaiser die Wiederherstellung eines polnischen
Reiches dennoch für sittliche Pflicht halten sollte, so könnte diese nicht dadurch
erfüllt werden, daß man zwei Drittel des alten Gebiets der Republik zu einem
Kriegswerkzeuge in der Hand einer einzelnen Macht gestalte, sondern nur da¬
durch, daß die Polen wirklich wieder "in liberaler Weise" zu einem politisch
unabhängigen Volke erhoben würden. Einer solchen Maßregel würde ganz
Europa seinen Beifall schenken. Bestände dagegen der Kaiser aus seinen For¬
derungen, so sei es nicht möglich, dem Congreß einen Plan zur Herstellung
eines geordneten Zustandes in Europa vorzulegen; Preußen und Oesterreich
könnten nicht Anordnungen zustimmen, durch die sie ohne militärische Grenzen
gelassen würden.

Ehe der Kaiser diese Note beantwortete, besprach er sich mit seinen leiten¬
den Staatsmännern Capodistrias und Pozzo ti Borgo, und da diese seine Pläne
mit Polen ähnlich wie Castlereagh mißbilligten, ließ er die Erwiederung auf die
Vorstellungen des letzteren von Adam Czartoryski und Baron Anstedt aus¬
arbeiten. Es hieß darin, was die zu Kalisch und Reichenbach eingegangenen
Verpflichtungen Rußlands betreffe, fo feien sie "nur Theile eines eventuellen,
für einen bestimmten Fall geschlossenen Vertrags", giltig nnr in der Voraus¬
setzung, daß der europäische Friede auf der damals von Oesterreich vorgeschla¬
genen Grundlage zu Stande komme. Seitdem habe der Erfolg des Krieges
viel beträchtlichere Eroberungen, eine veränderte Weltlage und für Preußen und
Oesterreich andere Friedensbedingungen, "erstaunliche Vergrößerungen", herbei¬
geführt, und so habe auch Rußland das Recht erworben, eine weniger be¬
schränkte Entschädigung zu erhalten. Schon habe der Kaiser Preußen Danzig,
Oesterreich die Salzwerke von Wieliczka überlassen; auch der beste und volk¬
reichste Landstrich des Herzogthums Warschau solle an Preußen abgetreten werden.
Was Rußland dann bleibe, sei ein verwüstetes Gebiet mit nur 2200000 Ein¬
wohnern und 8 Millionen Einkünften. Dasselbe begünstige keineswegs einen
Angriff auf Wien oder Berlin, sei vielmehr als abgeschnitten zu betrachten,
wenn Preußen und Oesterreich sich zum Kriege gegen Rußland vereinigten. Die
Herstellung des Namens Polen bedrohe die Nachbarn mit keinerlei Gefahr;
denn der Kaiser sei erbötig, denselben ihre polnischen Besitzungen förmlich zu
garantiren. Die Nationalität aber, die er den Polen zurückgeben wolle, sei das
sicherste Mittel, deren Unruhe zu beschwichtigen. Im Allgemeinen hatte Czar¬
toryski in seiner Denkschrift nach der Stimmung, die den Kaiser Alexander be¬
herrschte, den Ton der verkannten und schwer gekränkten Unschuld angeschlagen.
Noch mehr war dies in dem Begleitschreiben der Fall, wo Alexander in Person
sprach, und wo es u. a. hieß: "Die Reinheit meiner Absichten macht mich stark,
Mylord, die Pfeile des Mißtrauens werden mich nicht treffen, und wenn ich


Schlüsse seiner Deduction, der Kaiser die Wiederherstellung eines polnischen
Reiches dennoch für sittliche Pflicht halten sollte, so könnte diese nicht dadurch
erfüllt werden, daß man zwei Drittel des alten Gebiets der Republik zu einem
Kriegswerkzeuge in der Hand einer einzelnen Macht gestalte, sondern nur da¬
durch, daß die Polen wirklich wieder „in liberaler Weise" zu einem politisch
unabhängigen Volke erhoben würden. Einer solchen Maßregel würde ganz
Europa seinen Beifall schenken. Bestände dagegen der Kaiser aus seinen For¬
derungen, so sei es nicht möglich, dem Congreß einen Plan zur Herstellung
eines geordneten Zustandes in Europa vorzulegen; Preußen und Oesterreich
könnten nicht Anordnungen zustimmen, durch die sie ohne militärische Grenzen
gelassen würden.

Ehe der Kaiser diese Note beantwortete, besprach er sich mit seinen leiten¬
den Staatsmännern Capodistrias und Pozzo ti Borgo, und da diese seine Pläne
mit Polen ähnlich wie Castlereagh mißbilligten, ließ er die Erwiederung auf die
Vorstellungen des letzteren von Adam Czartoryski und Baron Anstedt aus¬
arbeiten. Es hieß darin, was die zu Kalisch und Reichenbach eingegangenen
Verpflichtungen Rußlands betreffe, fo feien sie „nur Theile eines eventuellen,
für einen bestimmten Fall geschlossenen Vertrags", giltig nnr in der Voraus¬
setzung, daß der europäische Friede auf der damals von Oesterreich vorgeschla¬
genen Grundlage zu Stande komme. Seitdem habe der Erfolg des Krieges
viel beträchtlichere Eroberungen, eine veränderte Weltlage und für Preußen und
Oesterreich andere Friedensbedingungen, „erstaunliche Vergrößerungen", herbei¬
geführt, und so habe auch Rußland das Recht erworben, eine weniger be¬
schränkte Entschädigung zu erhalten. Schon habe der Kaiser Preußen Danzig,
Oesterreich die Salzwerke von Wieliczka überlassen; auch der beste und volk¬
reichste Landstrich des Herzogthums Warschau solle an Preußen abgetreten werden.
Was Rußland dann bleibe, sei ein verwüstetes Gebiet mit nur 2200000 Ein¬
wohnern und 8 Millionen Einkünften. Dasselbe begünstige keineswegs einen
Angriff auf Wien oder Berlin, sei vielmehr als abgeschnitten zu betrachten,
wenn Preußen und Oesterreich sich zum Kriege gegen Rußland vereinigten. Die
Herstellung des Namens Polen bedrohe die Nachbarn mit keinerlei Gefahr;
denn der Kaiser sei erbötig, denselben ihre polnischen Besitzungen förmlich zu
garantiren. Die Nationalität aber, die er den Polen zurückgeben wolle, sei das
sicherste Mittel, deren Unruhe zu beschwichtigen. Im Allgemeinen hatte Czar¬
toryski in seiner Denkschrift nach der Stimmung, die den Kaiser Alexander be¬
herrschte, den Ton der verkannten und schwer gekränkten Unschuld angeschlagen.
Noch mehr war dies in dem Begleitschreiben der Fall, wo Alexander in Person
sprach, und wo es u. a. hieß: „Die Reinheit meiner Absichten macht mich stark,
Mylord, die Pfeile des Mißtrauens werden mich nicht treffen, und wenn ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/190>, abgerufen am 23.07.2024.