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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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zu assimilirenden Besitzes an der Weichsel zurückzuführen ist. Es war daher
nichts weniger als ein Glück, daß nach dem Siege, den die Verbündeten 1813
über Napoleon erfochten, der Wiener Congreß Preußen nöthigte, sich für die
Abtretung eines Theils des eroberten Sachsen mit einem Stücke des früher von
ihm besessenen polnischen Gebietes entschädigen zu lassen, zumal es dadurch eine
militärisch schlecht abgerundete Grenze bekam.

Der Kaiser Alexander hatte in Wien die Wiederaufrichtung des Reiches
Polen im Auge und beanspruchte zu diesem Zwecke, daß ihm mit Ausnahme
Großpolens bis zur Prosna das gesammte Herzogthum Warschau überlassen
werde. Das widersprach entschieden früheren Uebereinkünften. Schon nach der
dritten Theilung Polens, im Jahre 1797, hatte Rußland Preußen und Oester¬
reich gegenüber Verpflichtungen übernommen und Vorbehalte unterzeichnet, die
mit seinein jetzigen Begehren nicht im Einklange standen. Später hatte es in
dem am 27. Februar 1813 zu Kalisch abgeschlossenen Vertrage mit Preußen
letzterem die Abrundung seiner verschiedenen Provinzen zu einem von den Ver¬
hältnissen, die es vor dem Kriege von 1806 gehabt, unabhängigen Staatskörper
zugesagt und dem Könige Friedrich Wilhelm ausdrücklich außer seinen gegen¬
wärtigen Besitzungen besonders Altpreußen verbürgt, mit welchem zugleich ein
Gebiet vereinigt werden sollte, das diese Provinz in jeder militärischen und
geographischen Beziehung mit Schlesien verbände. Vier Monate später hatte
die russische Regierung in dem zwischen ihr und der preußischen und österreichi¬
schen zu Reichenbach vereinbarten Vertrage Auflösung des Herzogthums Warschau
und Vertheilung der dasselbe bildenden Landstriche unter die drei contrahirenden
Mächte nach deren Anordnungen versprochen. Endlich war im Teplitzer Ver¬
trage vom 9. September 1813 eine freundschaftliche Vereinigung Preußens,
Oesterreichs und Rußlands über das Herzogthum Warschau zu Stande gekommen.

Der Freiherr v. Stein, welcher an den Verhandlungen über diese Verträge
theilgenommen, machte dem Kaiser Vorstellungen, indem er ihm schrieb, die von
ihm verlangte Grenze von Thorn über Kalisch nach Krakau bedrohe Preußen
und Oesterreich und stelle außerdem gegen ersteres "eine Linie mit einspringenden
Winkel in Ost- und Westpreußen auf, welche so wunderlich und unregelmäßig
sei, daß sie selbst in Friedenszeiten jede Verwaltungsmaßregel hemme".

Als diese Mahnung unwirksam blieb, schritt England ein. Castlereagh
übersandte dem Kaiser Alexander eine Note, in der er, vom Kalischer Vertrag
ausgehend, mit großem Nachdruck die Gefahren betonte, die sich aus dessen
Begehren für die Ruhe Preußens, Oesterreichs und ganz Europas ergeben
müßten, Gefahren, welche namentlich die an die Polen gerichtete Aufforderung
in sich schlösse, sich um Rußlands Kaiser zu schaaren und an der Wiedergeburt
ihres Vaterlandes zu arbeiten. Wenn, so sagte der brittische Diplomat am


zu assimilirenden Besitzes an der Weichsel zurückzuführen ist. Es war daher
nichts weniger als ein Glück, daß nach dem Siege, den die Verbündeten 1813
über Napoleon erfochten, der Wiener Congreß Preußen nöthigte, sich für die
Abtretung eines Theils des eroberten Sachsen mit einem Stücke des früher von
ihm besessenen polnischen Gebietes entschädigen zu lassen, zumal es dadurch eine
militärisch schlecht abgerundete Grenze bekam.

Der Kaiser Alexander hatte in Wien die Wiederaufrichtung des Reiches
Polen im Auge und beanspruchte zu diesem Zwecke, daß ihm mit Ausnahme
Großpolens bis zur Prosna das gesammte Herzogthum Warschau überlassen
werde. Das widersprach entschieden früheren Uebereinkünften. Schon nach der
dritten Theilung Polens, im Jahre 1797, hatte Rußland Preußen und Oester¬
reich gegenüber Verpflichtungen übernommen und Vorbehalte unterzeichnet, die
mit seinein jetzigen Begehren nicht im Einklange standen. Später hatte es in
dem am 27. Februar 1813 zu Kalisch abgeschlossenen Vertrage mit Preußen
letzterem die Abrundung seiner verschiedenen Provinzen zu einem von den Ver¬
hältnissen, die es vor dem Kriege von 1806 gehabt, unabhängigen Staatskörper
zugesagt und dem Könige Friedrich Wilhelm ausdrücklich außer seinen gegen¬
wärtigen Besitzungen besonders Altpreußen verbürgt, mit welchem zugleich ein
Gebiet vereinigt werden sollte, das diese Provinz in jeder militärischen und
geographischen Beziehung mit Schlesien verbände. Vier Monate später hatte
die russische Regierung in dem zwischen ihr und der preußischen und österreichi¬
schen zu Reichenbach vereinbarten Vertrage Auflösung des Herzogthums Warschau
und Vertheilung der dasselbe bildenden Landstriche unter die drei contrahirenden
Mächte nach deren Anordnungen versprochen. Endlich war im Teplitzer Ver¬
trage vom 9. September 1813 eine freundschaftliche Vereinigung Preußens,
Oesterreichs und Rußlands über das Herzogthum Warschau zu Stande gekommen.

Der Freiherr v. Stein, welcher an den Verhandlungen über diese Verträge
theilgenommen, machte dem Kaiser Vorstellungen, indem er ihm schrieb, die von
ihm verlangte Grenze von Thorn über Kalisch nach Krakau bedrohe Preußen
und Oesterreich und stelle außerdem gegen ersteres „eine Linie mit einspringenden
Winkel in Ost- und Westpreußen auf, welche so wunderlich und unregelmäßig
sei, daß sie selbst in Friedenszeiten jede Verwaltungsmaßregel hemme".

Als diese Mahnung unwirksam blieb, schritt England ein. Castlereagh
übersandte dem Kaiser Alexander eine Note, in der er, vom Kalischer Vertrag
ausgehend, mit großem Nachdruck die Gefahren betonte, die sich aus dessen
Begehren für die Ruhe Preußens, Oesterreichs und ganz Europas ergeben
müßten, Gefahren, welche namentlich die an die Polen gerichtete Aufforderung
in sich schlösse, sich um Rußlands Kaiser zu schaaren und an der Wiedergeburt
ihres Vaterlandes zu arbeiten. Wenn, so sagte der brittische Diplomat am


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/189>, abgerufen am 25.08.2024.