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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Indem die "norddeutsche Allgemeine Zeitung" daran anknüpfte, daß die
Berliner "Volkszeitung" das tendenziöse Histörchen der "Rußkaja Starina" mit
der Bemerkung reproducirt hatte, dasselbe sei "nicht ganz aus der Lust ge¬
griffen", erklärte sie es zunächst für "vollständig erfunden und erlogen". Es
sei, so hieß es dann in dieser Abfertigung, nicht wahr, daß v. Treskow 1865
oder zu anderer Zeit nach Dresden oder überhaupt irgend wohin an einen
Agenten der polnischen Nationalregierung abgesandt worden. Die preußische
Regierung habe niemals mit einem solchen Agenten unterhandelt, und niemand
im Ministerium: des Auswärtigen habe von der Existenz eines Herrn Klobu-
chowski etwas gewußt. Niemals sei hier "das Maß von Unbekanntschaft mit
den Thatsachen vorhanden gewesen, welches erforderlich wäre, um zu glauben,
daß man die Mitwirkung der polnischen Nevolutionspartei zu dem Zwecke er¬
langen könne, die Abtretung irgend eines Theiles von Russisch-Polen an Preußen
herbeizuführen".

Dann aber fuhr der Artikel, die Defensive verlassend, fort: "Die Mög¬
lichkeit einer solchen Abtretung ist allerdings seit dem Tode Kaiser Alexanders I.
wiederholt angeregt worden, aber nur durch russische Initiative in arti-polni¬
schem Sinne, zur Erleichterung der Beherrschung der Polen. Namentlich ist
von Seiten des Kaisers Nicolaus der Gedanke einer Abtretung nicht nur des
linken Weichselufers, sondern auch Warschau's dem hochseligen Könige Friedrich
Wilhelm IV. gegenüber mehr als einmal und zuletzt im Laufe des Krimkrieges
nahegelegt worden, aber stets ohne Anklang zu finden, weil der König nicht
geneigt war, das Verhältniß seiner polnisch sprechenden Unterthanen den deut¬
schen gegenüber zu verstärken. Auch in späterer Zeit, bei dem Mißlingen der
Versuche, die durch den Grafen Lambert, den Großfürsten Constantin und den
Marquis Wielopolski gemacht wurden, wurde in russischen gouvernementalen
Kreisen die Frage einer ,neuen Theilung Polens ventilirt, um einen Theil der
Schwierigkeiten der Negierung des Weichsellandes auf Preußen zu übertragen
und die Aufgabe Rußlands um so viel zu erleichtern, Warschau aber als eiuen
beliebten Garnisonsort und mit Rücksicht auf seine fortificatorische Bedeutung
zu behalten. Aber auch diesmal fanden die darüber nach Berlin gelangenden
Mittheilungen dort an höchster Stelle kein Entgegenkommen, da der Glaube an
den deutschen Beruf Preußens mindestens derselbe geblieben war wie zur Zeit
des Krimkrieges und ein Zuwachs an polnisch redenden Preußen demselben
nicht förderlich erachtet wurde."

Das wäre denn die Auffassung der "polnischen Frage", die preußischer- und
russischerseits in den letzten Jahrzehnten obgewaltet hat. Früher aber herrschten in
dieser Beziehung auf dieser wie auf jener Seite bis zu einem gewissen Punkte


Indem die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" daran anknüpfte, daß die
Berliner „Volkszeitung" das tendenziöse Histörchen der „Rußkaja Starina" mit
der Bemerkung reproducirt hatte, dasselbe sei „nicht ganz aus der Lust ge¬
griffen", erklärte sie es zunächst für „vollständig erfunden und erlogen". Es
sei, so hieß es dann in dieser Abfertigung, nicht wahr, daß v. Treskow 1865
oder zu anderer Zeit nach Dresden oder überhaupt irgend wohin an einen
Agenten der polnischen Nationalregierung abgesandt worden. Die preußische
Regierung habe niemals mit einem solchen Agenten unterhandelt, und niemand
im Ministerium: des Auswärtigen habe von der Existenz eines Herrn Klobu-
chowski etwas gewußt. Niemals sei hier „das Maß von Unbekanntschaft mit
den Thatsachen vorhanden gewesen, welches erforderlich wäre, um zu glauben,
daß man die Mitwirkung der polnischen Nevolutionspartei zu dem Zwecke er¬
langen könne, die Abtretung irgend eines Theiles von Russisch-Polen an Preußen
herbeizuführen".

Dann aber fuhr der Artikel, die Defensive verlassend, fort: „Die Mög¬
lichkeit einer solchen Abtretung ist allerdings seit dem Tode Kaiser Alexanders I.
wiederholt angeregt worden, aber nur durch russische Initiative in arti-polni¬
schem Sinne, zur Erleichterung der Beherrschung der Polen. Namentlich ist
von Seiten des Kaisers Nicolaus der Gedanke einer Abtretung nicht nur des
linken Weichselufers, sondern auch Warschau's dem hochseligen Könige Friedrich
Wilhelm IV. gegenüber mehr als einmal und zuletzt im Laufe des Krimkrieges
nahegelegt worden, aber stets ohne Anklang zu finden, weil der König nicht
geneigt war, das Verhältniß seiner polnisch sprechenden Unterthanen den deut¬
schen gegenüber zu verstärken. Auch in späterer Zeit, bei dem Mißlingen der
Versuche, die durch den Grafen Lambert, den Großfürsten Constantin und den
Marquis Wielopolski gemacht wurden, wurde in russischen gouvernementalen
Kreisen die Frage einer ,neuen Theilung Polens ventilirt, um einen Theil der
Schwierigkeiten der Negierung des Weichsellandes auf Preußen zu übertragen
und die Aufgabe Rußlands um so viel zu erleichtern, Warschau aber als eiuen
beliebten Garnisonsort und mit Rücksicht auf seine fortificatorische Bedeutung
zu behalten. Aber auch diesmal fanden die darüber nach Berlin gelangenden
Mittheilungen dort an höchster Stelle kein Entgegenkommen, da der Glaube an
den deutschen Beruf Preußens mindestens derselbe geblieben war wie zur Zeit
des Krimkrieges und ein Zuwachs an polnisch redenden Preußen demselben
nicht förderlich erachtet wurde."

Das wäre denn die Auffassung der „polnischen Frage", die preußischer- und
russischerseits in den letzten Jahrzehnten obgewaltet hat. Früher aber herrschten in
dieser Beziehung auf dieser wie auf jener Seite bis zu einem gewissen Punkte


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[0187] Indem die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" daran anknüpfte, daß die Berliner „Volkszeitung" das tendenziöse Histörchen der „Rußkaja Starina" mit der Bemerkung reproducirt hatte, dasselbe sei „nicht ganz aus der Lust ge¬ griffen", erklärte sie es zunächst für „vollständig erfunden und erlogen". Es sei, so hieß es dann in dieser Abfertigung, nicht wahr, daß v. Treskow 1865 oder zu anderer Zeit nach Dresden oder überhaupt irgend wohin an einen Agenten der polnischen Nationalregierung abgesandt worden. Die preußische Regierung habe niemals mit einem solchen Agenten unterhandelt, und niemand im Ministerium: des Auswärtigen habe von der Existenz eines Herrn Klobu- chowski etwas gewußt. Niemals sei hier „das Maß von Unbekanntschaft mit den Thatsachen vorhanden gewesen, welches erforderlich wäre, um zu glauben, daß man die Mitwirkung der polnischen Nevolutionspartei zu dem Zwecke er¬ langen könne, die Abtretung irgend eines Theiles von Russisch-Polen an Preußen herbeizuführen". Dann aber fuhr der Artikel, die Defensive verlassend, fort: „Die Mög¬ lichkeit einer solchen Abtretung ist allerdings seit dem Tode Kaiser Alexanders I. wiederholt angeregt worden, aber nur durch russische Initiative in arti-polni¬ schem Sinne, zur Erleichterung der Beherrschung der Polen. Namentlich ist von Seiten des Kaisers Nicolaus der Gedanke einer Abtretung nicht nur des linken Weichselufers, sondern auch Warschau's dem hochseligen Könige Friedrich Wilhelm IV. gegenüber mehr als einmal und zuletzt im Laufe des Krimkrieges nahegelegt worden, aber stets ohne Anklang zu finden, weil der König nicht geneigt war, das Verhältniß seiner polnisch sprechenden Unterthanen den deut¬ schen gegenüber zu verstärken. Auch in späterer Zeit, bei dem Mißlingen der Versuche, die durch den Grafen Lambert, den Großfürsten Constantin und den Marquis Wielopolski gemacht wurden, wurde in russischen gouvernementalen Kreisen die Frage einer ,neuen Theilung Polens ventilirt, um einen Theil der Schwierigkeiten der Negierung des Weichsellandes auf Preußen zu übertragen und die Aufgabe Rußlands um so viel zu erleichtern, Warschau aber als eiuen beliebten Garnisonsort und mit Rücksicht auf seine fortificatorische Bedeutung zu behalten. Aber auch diesmal fanden die darüber nach Berlin gelangenden Mittheilungen dort an höchster Stelle kein Entgegenkommen, da der Glaube an den deutschen Beruf Preußens mindestens derselbe geblieben war wie zur Zeit des Krimkrieges und ein Zuwachs an polnisch redenden Preußen demselben nicht förderlich erachtet wurde." Das wäre denn die Auffassung der „polnischen Frage", die preußischer- und russischerseits in den letzten Jahrzehnten obgewaltet hat. Früher aber herrschten in dieser Beziehung auf dieser wie auf jener Seite bis zu einem gewissen Punkte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/187>, abgerufen am 23.07.2024.