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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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della nahm keinen Ministerposten an, sondern begnügte sich einstweilen mit der
Stelle eines Präsidenten der zweiten Kammer. Alles schien von nun an gut
gehen zu wollen. Die Harmonie'zwischen der Regierung und der Deputirten-
kammer blieb eine Zeit lang ungestört. Die nächsten Forderungen der fortge-
schrittneren Republikaner: Neubesetzung einer Anzahl von höheren Beamten-
und Ossiziersstellen mit zuverlässigeren Elementen und die Begnadigung der
meisten verbannten Communards wurden erfüllt, und wenn der Präsident und
sein Cabinet auf das weitere Verlangen nach gerichtlicher Verfolgung des ge¬
fallenen antirepublikanischen Ministeriums Broglie aus guten Gründen nicht
einging, so führte der darüber entbrennende Streit zu keinem ernsten Conflicte.
Die weitere Entwicklung der Dinge aber war nicht so günstig. Der Appetit
kam mit dem Essen. Die Linke der Republikaner, der man zwei Finger gereicht,
verrieth bald, daß sie die ganze Hand wollte. Sie beanspruchte jetzt Purifica-
tion auch des Richterstandes und weitere Entlassungen im Offizierscorps, sie
drang auf Amnestie für alle Verbannten von sie forderte Rückkehr der
gesetzgebenden Körperschaften von Versailles nach Paris. Gambetta verhielt
sich diesen Fragen gegenüber meist zweideutig, schien aber wiederholt den Radi¬
kalen zuzuneigen, und da die Regierung sich wenig entschlossen und in wichtigen
Punkten zu nachgiebig zeigte, so begannen die Dinge eine Wendung zu nehmen,
die ernste Befürchtungen für den Bestand einer conservativen Republik und
-- da Thiers mit vollem Rechte bemerkt hat: "Die Republik wird conservativ
sein oder nicht sein" -- für den Bestand der Republik überhaupt erwecken
mußte; denn die große Mehrheit der Franzosen will Frieden haben, um arbeiten
zu können, zu verdienen und in ihrem Verdienst geschützt zu sein, die Republik
der Radikalen aber ist Unfriede und Anarchie, und die principiell der Republik
feindlichen Parteien find noch stark genug, um, gestützt auf eine Enttäuschung
der Hoffnungen, welche das Volk der Provinz auf die Republik baute, als es
im Januar wählte, dem Mißbrauch der jetzt geltenden Staatsform bei passender
Gelegenheit ein Ende zu machen. Verhängnißvoll erwies sich die Rückkehr der
Deportirten, indem der anarchische Pöbel der großen Städte wieder Führer
bekam, noch verhängnisvoller wird sich mit der Zeit, trotz aller Vorsichtsma߬
regeln, die man getroffen hat, die Zurückverlegung" der Kammern nach dem
unberechenbaren Paris erweisen. Schon sühlt sich der Radikalismus der Clubbs
und der Straße wieder, schon spricht man in öffentlichen Arbeiterversammlungen
ungescheut vom Ansturm gegen die Besitzenden. Andrerseits sagte man schon
vor Wochen den Sturz Waddingtons voraus, und wenn derselbe nicht sofort
erfolgte, der Minister im Gegentheil vor kurzem einen Sieg in der Kammer
errang, so schienen die Verhältnisse doch auch nach diesem Erfolge nicht dazu
angethan, ihn seine Stelle viel länger behaupten zu lassen, und der Anthea-


della nahm keinen Ministerposten an, sondern begnügte sich einstweilen mit der
Stelle eines Präsidenten der zweiten Kammer. Alles schien von nun an gut
gehen zu wollen. Die Harmonie'zwischen der Regierung und der Deputirten-
kammer blieb eine Zeit lang ungestört. Die nächsten Forderungen der fortge-
schrittneren Republikaner: Neubesetzung einer Anzahl von höheren Beamten-
und Ossiziersstellen mit zuverlässigeren Elementen und die Begnadigung der
meisten verbannten Communards wurden erfüllt, und wenn der Präsident und
sein Cabinet auf das weitere Verlangen nach gerichtlicher Verfolgung des ge¬
fallenen antirepublikanischen Ministeriums Broglie aus guten Gründen nicht
einging, so führte der darüber entbrennende Streit zu keinem ernsten Conflicte.
Die weitere Entwicklung der Dinge aber war nicht so günstig. Der Appetit
kam mit dem Essen. Die Linke der Republikaner, der man zwei Finger gereicht,
verrieth bald, daß sie die ganze Hand wollte. Sie beanspruchte jetzt Purifica-
tion auch des Richterstandes und weitere Entlassungen im Offizierscorps, sie
drang auf Amnestie für alle Verbannten von sie forderte Rückkehr der
gesetzgebenden Körperschaften von Versailles nach Paris. Gambetta verhielt
sich diesen Fragen gegenüber meist zweideutig, schien aber wiederholt den Radi¬
kalen zuzuneigen, und da die Regierung sich wenig entschlossen und in wichtigen
Punkten zu nachgiebig zeigte, so begannen die Dinge eine Wendung zu nehmen,
die ernste Befürchtungen für den Bestand einer conservativen Republik und
— da Thiers mit vollem Rechte bemerkt hat: „Die Republik wird conservativ
sein oder nicht sein" — für den Bestand der Republik überhaupt erwecken
mußte; denn die große Mehrheit der Franzosen will Frieden haben, um arbeiten
zu können, zu verdienen und in ihrem Verdienst geschützt zu sein, die Republik
der Radikalen aber ist Unfriede und Anarchie, und die principiell der Republik
feindlichen Parteien find noch stark genug, um, gestützt auf eine Enttäuschung
der Hoffnungen, welche das Volk der Provinz auf die Republik baute, als es
im Januar wählte, dem Mißbrauch der jetzt geltenden Staatsform bei passender
Gelegenheit ein Ende zu machen. Verhängnißvoll erwies sich die Rückkehr der
Deportirten, indem der anarchische Pöbel der großen Städte wieder Führer
bekam, noch verhängnisvoller wird sich mit der Zeit, trotz aller Vorsichtsma߬
regeln, die man getroffen hat, die Zurückverlegung" der Kammern nach dem
unberechenbaren Paris erweisen. Schon sühlt sich der Radikalismus der Clubbs
und der Straße wieder, schon spricht man in öffentlichen Arbeiterversammlungen
ungescheut vom Ansturm gegen die Besitzenden. Andrerseits sagte man schon
vor Wochen den Sturz Waddingtons voraus, und wenn derselbe nicht sofort
erfolgte, der Minister im Gegentheil vor kurzem einen Sieg in der Kammer
errang, so schienen die Verhältnisse doch auch nach diesem Erfolge nicht dazu
angethan, ihn seine Stelle viel länger behaupten zu lassen, und der Anthea-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/16>, abgerufen am 23.07.2024.