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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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für das harmonische Zusammengehen derselben zu wechselseitiger Vertheidigung
in die Hände bekommen und dürfen hoffen, daß, was hier im Kleinen geschehen
ist, falls das Bedürfniß dazu eintritt, sich im' Großen wiederholen wird.

In hohem Grade unerquicklich sind im vergangenen Jahre die Zustände
in Rußland geworden. Der Geist der Revolution scheint hier, abgesehen von
den Kleinbürgern und Bauern, in allen Schichten der Bevölkerung zu spuken,
und die politische Secte der Nihilisten, schon früher mit Dolch und Revolver
für ihr Programm thätig, hat in den letzten Monaten sich zweimal sogar an
die Person des Zaren gewagt, obwohl zwischen den beiden Attentaten Maßregeln
der strengsten Repressiv" die Bevölkerung niederhielten und mehrere von der
verbrecherischen Rotte ihre Missethaten am Galgen oder in deu sibirischen Berg¬
werken büßten. Allgemeines Mißvergnügen, tiefste Bestürzung herrschen in
weiten Kreisen der Gesellschaft, und wenn man auch nicht an Berichte glauben
darf, uach welchen der Kaiser auf einem Vulean wandelt, der Winterpalast
unterminirt worden ist, der Thronfolger wegen Differenzen mit seinem Vater
Verhaftung zu gewärtigen gehabt hat u. tgi. in., so ist uach Meldungen von
zuverlässigerer Seite doch kaum mehr zu verkennen, daß die politische Fäulniß,
die das weite Reich des Selbstherrschers aller Reußen bis in hohe Sphären
hinauf ergriffen hat, bis zu dem Grade gediehen ist, daß man über die
Mittel, wie ihr zu begegnen, schon beinahe rathlos ist. Denn mit dein alten
System des Niederhaltens scheint es nach den letzten Erfahrungen nicht mehr
zu gehen, und andrerseits spricht vieles für die Ansicht, daß Nachgeben gegen
die Wünsche der liberalen Parteien, Ertheilung verfassungsmäßiger Rechte das
Uebel uur an die Oberfläche bringen, es verallgemeinern und die drohende
Katastrophe, welche, da die liberale Partei zugleich panslawistische Zwecke auf
ihrer Fahne trägt, leicht von einem Losbruche gegen Westen hin begleitet sein
kann, beschleunigen würde.

Weniger gefährlich für die nächste Zeit, aber immerhin nicht unbedenklich
haben sich im letzten Jahre die Dinge in Frankreich gestaltet. Rascher, als man
erwartet, führten die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Präsidenten Mac
Mahon und den durch die Wahlen vom 5. Januar zur Herrschaft in der Ge¬
setzgebung gelangten Republikanern zur Katastrophe. Mac Mahon trat vor den
Forderungen der letzteren zurück und machte dein gemäßigten Republikaner
Grevy Platz. Das Ministerium Dufaure, welches sich jener Forderungen an¬
genommen hatte, aber sich der neuen Lage nicht genügend gewachsen fühlte, ent¬
schloß sich bald nachher, gleichfalls seine Entlassung zu nehmen, und an die
Spitze des neuen Cabinets trat Waddington, der dem linken Centrum, also wie
Grevh den Gemäßigten angehörte und in der bisherigen Regierung an der Spitze
der auswärtigen Angelegenheiten gestanden hatte, an der er jetzt verblieb. Gau-


für das harmonische Zusammengehen derselben zu wechselseitiger Vertheidigung
in die Hände bekommen und dürfen hoffen, daß, was hier im Kleinen geschehen
ist, falls das Bedürfniß dazu eintritt, sich im' Großen wiederholen wird.

In hohem Grade unerquicklich sind im vergangenen Jahre die Zustände
in Rußland geworden. Der Geist der Revolution scheint hier, abgesehen von
den Kleinbürgern und Bauern, in allen Schichten der Bevölkerung zu spuken,
und die politische Secte der Nihilisten, schon früher mit Dolch und Revolver
für ihr Programm thätig, hat in den letzten Monaten sich zweimal sogar an
die Person des Zaren gewagt, obwohl zwischen den beiden Attentaten Maßregeln
der strengsten Repressiv» die Bevölkerung niederhielten und mehrere von der
verbrecherischen Rotte ihre Missethaten am Galgen oder in deu sibirischen Berg¬
werken büßten. Allgemeines Mißvergnügen, tiefste Bestürzung herrschen in
weiten Kreisen der Gesellschaft, und wenn man auch nicht an Berichte glauben
darf, uach welchen der Kaiser auf einem Vulean wandelt, der Winterpalast
unterminirt worden ist, der Thronfolger wegen Differenzen mit seinem Vater
Verhaftung zu gewärtigen gehabt hat u. tgi. in., so ist uach Meldungen von
zuverlässigerer Seite doch kaum mehr zu verkennen, daß die politische Fäulniß,
die das weite Reich des Selbstherrschers aller Reußen bis in hohe Sphären
hinauf ergriffen hat, bis zu dem Grade gediehen ist, daß man über die
Mittel, wie ihr zu begegnen, schon beinahe rathlos ist. Denn mit dein alten
System des Niederhaltens scheint es nach den letzten Erfahrungen nicht mehr
zu gehen, und andrerseits spricht vieles für die Ansicht, daß Nachgeben gegen
die Wünsche der liberalen Parteien, Ertheilung verfassungsmäßiger Rechte das
Uebel uur an die Oberfläche bringen, es verallgemeinern und die drohende
Katastrophe, welche, da die liberale Partei zugleich panslawistische Zwecke auf
ihrer Fahne trägt, leicht von einem Losbruche gegen Westen hin begleitet sein
kann, beschleunigen würde.

Weniger gefährlich für die nächste Zeit, aber immerhin nicht unbedenklich
haben sich im letzten Jahre die Dinge in Frankreich gestaltet. Rascher, als man
erwartet, führten die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Präsidenten Mac
Mahon und den durch die Wahlen vom 5. Januar zur Herrschaft in der Ge¬
setzgebung gelangten Republikanern zur Katastrophe. Mac Mahon trat vor den
Forderungen der letzteren zurück und machte dein gemäßigten Republikaner
Grevy Platz. Das Ministerium Dufaure, welches sich jener Forderungen an¬
genommen hatte, aber sich der neuen Lage nicht genügend gewachsen fühlte, ent¬
schloß sich bald nachher, gleichfalls seine Entlassung zu nehmen, und an die
Spitze des neuen Cabinets trat Waddington, der dem linken Centrum, also wie
Grevh den Gemäßigten angehörte und in der bisherigen Regierung an der Spitze
der auswärtigen Angelegenheiten gestanden hatte, an der er jetzt verblieb. Gau-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/15>, abgerufen am 23.07.2024.