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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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übrig. Die Masse unseres Arbeiterstandes mag also eine leidliche Gegenwart
haben, aber die Zukunft ist eine düstere, und es ist bei dieser Lage der Dinge
vollkommen erklärlich, wenn der Durchschnittsarbeiter entweder am liebsten gar
nicht an diese Zukunft denkt, oder zu Betäubungsmitteln greift, oder endlich
allerhand Träumereien und Phantasien über eine, auf den Trümmern der
jetzigen Gesellschaft zu errichtende bessere Zukunft für ihn und die Seinen sich
hingiebt. Ein humaner Fabrikbesitzer*) sagte dem Schreiber dieser Zeilen einmal,
er selbst habe es zu Reichthum und Behagen gebracht, er habe aber in seiner
Fabrik Arbeiter, die er schon vorgefunden habe, und die es zu nichts gebracht
hätten, ohne daß man diese Leute des Unfleißes, des liederlichen Lebens :e.
beschuldigen könne; im Gegentheil, es seien sehr wackere Leute darunter; hier
müsse ein Fehler in unserer Gesellschaftsordnung stecken. So ist es in der
That. Unzählige Arbeiter kämpfen heutzutage, ohne nachweisbare eigene Schuld,
mit der Lebensnothdurft in einem Maße, welches den Gedanken an Sicherung
vor den Wechselfällen des Lebens gar nicht aufkommen läßt. Das wäre an
sich keineswegs ein unerträglicher Zustand, denn alle derartigen Verhältnisse
sind schließlich relativ; ohne Frage hat sich sehr vieles schon gebessert, und ohne
Frage wird es zu einem Zustande, welcher allen, selbst bescheidenen Wünschen
Geniige leistet, kaum je zu bringen sein. Aber seit eine unermüdliche, mit alleil
Hilfsmitteln unserer Zeit ausgerüstete Agitation dahin gerichtet ist, in den
Arbeitern einerseits das Bewußtsein ihrer dürftigen, vielfach unbefriedigender
Lage wachzurufen und andrerseits sie zur Stellung der Frage zu veranlassen,
ob dem nicht abzuhelfen sei, seitdem ist die Lage eine ganz andere geworden,
und die oben geschilderte Hoffnungslosigkeit darf nicht mehr bloß im Lichte
eines sittlichen, sie muß uus auch in dem eines schweren socialen Factors erscheinen.

Nun macht sich allerdings gegen die Absicht, diese Hoffnungslosigkeit zu
beseitigen oder ihr doch den stärksten Stachel zu nehmen, ein schweres Be¬
denken geltend. Der Arbeiter, so sagt man nicht ganz grundloserweise, sei
ohnehin stark disponirt, an Vorsorge sür die vielleicht kommenden üblen Tage
und an das Schicksal seiner Hinterbliebenen nicht zu denken, sich wenigstens
keine großen Sorgen darum zu machen und sich keine irgend fühlbaren Entbeh¬
rungen aus diesem Grunde aufzuerlegen/ wie solle das erst werden, wenn der Arbeiter
im voraus wisse, daß er gegen Alter und Arbeitsunfähigkeit in jedem Falle ver¬
sichert sei, ihn also gar nicht mehr viel treffen könne? Dann würde man ja
darauf schwören dürfen, daß er nicht den geringsten Anlaß mehr sehen werde,
etwas zu sparen, sich vielmehr mit einer gewissen inneren Beruhigung dem Ver-



5) Den Namen des Braven zu verschweigen, liegt kein Grund vor; es war der viel¬
genannte, auf einer Reise nach Amerika in der Salzseestadt verunglückte Tabakfabrikant
Carl Greiff zu Bingen.

übrig. Die Masse unseres Arbeiterstandes mag also eine leidliche Gegenwart
haben, aber die Zukunft ist eine düstere, und es ist bei dieser Lage der Dinge
vollkommen erklärlich, wenn der Durchschnittsarbeiter entweder am liebsten gar
nicht an diese Zukunft denkt, oder zu Betäubungsmitteln greift, oder endlich
allerhand Träumereien und Phantasien über eine, auf den Trümmern der
jetzigen Gesellschaft zu errichtende bessere Zukunft für ihn und die Seinen sich
hingiebt. Ein humaner Fabrikbesitzer*) sagte dem Schreiber dieser Zeilen einmal,
er selbst habe es zu Reichthum und Behagen gebracht, er habe aber in seiner
Fabrik Arbeiter, die er schon vorgefunden habe, und die es zu nichts gebracht
hätten, ohne daß man diese Leute des Unfleißes, des liederlichen Lebens :e.
beschuldigen könne; im Gegentheil, es seien sehr wackere Leute darunter; hier
müsse ein Fehler in unserer Gesellschaftsordnung stecken. So ist es in der
That. Unzählige Arbeiter kämpfen heutzutage, ohne nachweisbare eigene Schuld,
mit der Lebensnothdurft in einem Maße, welches den Gedanken an Sicherung
vor den Wechselfällen des Lebens gar nicht aufkommen läßt. Das wäre an
sich keineswegs ein unerträglicher Zustand, denn alle derartigen Verhältnisse
sind schließlich relativ; ohne Frage hat sich sehr vieles schon gebessert, und ohne
Frage wird es zu einem Zustande, welcher allen, selbst bescheidenen Wünschen
Geniige leistet, kaum je zu bringen sein. Aber seit eine unermüdliche, mit alleil
Hilfsmitteln unserer Zeit ausgerüstete Agitation dahin gerichtet ist, in den
Arbeitern einerseits das Bewußtsein ihrer dürftigen, vielfach unbefriedigender
Lage wachzurufen und andrerseits sie zur Stellung der Frage zu veranlassen,
ob dem nicht abzuhelfen sei, seitdem ist die Lage eine ganz andere geworden,
und die oben geschilderte Hoffnungslosigkeit darf nicht mehr bloß im Lichte
eines sittlichen, sie muß uus auch in dem eines schweren socialen Factors erscheinen.

Nun macht sich allerdings gegen die Absicht, diese Hoffnungslosigkeit zu
beseitigen oder ihr doch den stärksten Stachel zu nehmen, ein schweres Be¬
denken geltend. Der Arbeiter, so sagt man nicht ganz grundloserweise, sei
ohnehin stark disponirt, an Vorsorge sür die vielleicht kommenden üblen Tage
und an das Schicksal seiner Hinterbliebenen nicht zu denken, sich wenigstens
keine großen Sorgen darum zu machen und sich keine irgend fühlbaren Entbeh¬
rungen aus diesem Grunde aufzuerlegen/ wie solle das erst werden, wenn der Arbeiter
im voraus wisse, daß er gegen Alter und Arbeitsunfähigkeit in jedem Falle ver¬
sichert sei, ihn also gar nicht mehr viel treffen könne? Dann würde man ja
darauf schwören dürfen, daß er nicht den geringsten Anlaß mehr sehen werde,
etwas zu sparen, sich vielmehr mit einer gewissen inneren Beruhigung dem Ver-



5) Den Namen des Braven zu verschweigen, liegt kein Grund vor; es war der viel¬
genannte, auf einer Reise nach Amerika in der Salzseestadt verunglückte Tabakfabrikant
Carl Greiff zu Bingen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/125>, abgerufen am 23.07.2024.