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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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und in ein Chaos hineingeschleudert worden sein, mochten sie noch so starken
depravirenden, demoralisirenden und degenerirenden Einflüssen unterliegen, mochten
sie ihren neuen Wohnort noch so sehr mit früher ungekannten socialen Mi߬
ständen inficiren und mit noch so unverhältnißmäßigen Pflichten gegen Arbeits¬
unfähige und Unmündige belasten -- dies alles brauchte den Fabrikherrn nicht
im mindesten zu kümmern; es gab keinerlei Bestimmungen darüber, wie er
seinerseits zu eiuer entsprechenden Mitverantwortlichkeit und Mitleistung heran¬
gezogen werden könne. Eine Zeit lang ist es sogar versucht worden, einfach
zu leugnen, daß die Fabrikindustrie das Armenwesen in merkbarer Weise beein¬
flusse; man behauptete, daß ganz andere Kategorien armer, bez. verarmter
Personen es seien, die das Armenbudget industrieller Städte so unerträglich
belasteten. Doch ist diese Behauptung längst fallen gelassen worden und hat
anderen Erwägungen, mit denen man sich über die Schwere der Frage hinweg¬
zutäuschen suchte, Platz gemacht. Im Allgemeinen verließ man sich darauf, daß
die zum Industriebetriebe herangezogenen Arbeiter meist solche aus der Umgegend
sein würden, und in der That ist auch in Deutschland die Zahl der Fälle nicht
übermäßig groß, in denen die Umgegend nicht wenigstens das Hauptcontingent
zu den beschäftigten Arbeitern gestellt hätte. Trotzdem giebt es Fälle, und ihre
Zahl ist nicht gering, in denen doch die Menge der auswärtigen Zuzügler eine
schwer ins Gewicht fallende geworden ist. Wo dies aber zutrifft, da treten auch
die oben erwähnten Bedenken in Kraft. Nicht mit Unrecht hat man gesagt,
daß solche Verhältnisse ein Analogon fänden in den Stadtgründungen orien¬
talischer Despoten, wenn dieselben Hunderttausende zusammentrieben ohne inneren
Halt, und sie vielleicht nach einigen Jahren wieder ebenso auseinander jagten. Es
sind Fälle vorgekommen, wo nach verhältnißmäßig kurzem Bestehen einer Fabrik¬
industrie dieselbe wieder aufhörte oder verlegt wurde und nun einen Rückstand
von der Gemeinde zu verpflegender Personen zurückließ, der in grellem Mi߬
verhältniß stand zu deu Vortheilen, welche die Gemeinde aus dem Fabrikbetriebe
vielleicht gezogen hatte. Fälle, in denen die der Gemeinde erwachsene Last noch
immer eine gröblich unverhältnißmäßige ist, wenn auch das eben geschilderte
Extrem bei thuen nicht eintrat, können massenhaft beobachtet werden.

Von der socialen Wirkung auf die Arbeitermassen als solche und auf die
in ihnen vorhandenen sittlichen Factoren, die doch wahrlich auch nicht zu unter¬
schätzen ist, ist hierbei noch ganz abgesehen. Die Vertheidiger des unbeschränkten
Jndustricilismus gehen allerdings stets von der Ansicht aus, daß unter allen
Umständen der Segen, den die Industrie verbreite, ein überwiegender sei, und
daß die Gemeinden, in denen die industrielle Entwicklung sich hauptsächlich
vollziehe, die damit verbundene Belästigung eben in den Kauf nehmen müßten.
Dies würde aber doch nur unter der doppelten Voraussetzung richtig sein, daß


und in ein Chaos hineingeschleudert worden sein, mochten sie noch so starken
depravirenden, demoralisirenden und degenerirenden Einflüssen unterliegen, mochten
sie ihren neuen Wohnort noch so sehr mit früher ungekannten socialen Mi߬
ständen inficiren und mit noch so unverhältnißmäßigen Pflichten gegen Arbeits¬
unfähige und Unmündige belasten — dies alles brauchte den Fabrikherrn nicht
im mindesten zu kümmern; es gab keinerlei Bestimmungen darüber, wie er
seinerseits zu eiuer entsprechenden Mitverantwortlichkeit und Mitleistung heran¬
gezogen werden könne. Eine Zeit lang ist es sogar versucht worden, einfach
zu leugnen, daß die Fabrikindustrie das Armenwesen in merkbarer Weise beein¬
flusse; man behauptete, daß ganz andere Kategorien armer, bez. verarmter
Personen es seien, die das Armenbudget industrieller Städte so unerträglich
belasteten. Doch ist diese Behauptung längst fallen gelassen worden und hat
anderen Erwägungen, mit denen man sich über die Schwere der Frage hinweg¬
zutäuschen suchte, Platz gemacht. Im Allgemeinen verließ man sich darauf, daß
die zum Industriebetriebe herangezogenen Arbeiter meist solche aus der Umgegend
sein würden, und in der That ist auch in Deutschland die Zahl der Fälle nicht
übermäßig groß, in denen die Umgegend nicht wenigstens das Hauptcontingent
zu den beschäftigten Arbeitern gestellt hätte. Trotzdem giebt es Fälle, und ihre
Zahl ist nicht gering, in denen doch die Menge der auswärtigen Zuzügler eine
schwer ins Gewicht fallende geworden ist. Wo dies aber zutrifft, da treten auch
die oben erwähnten Bedenken in Kraft. Nicht mit Unrecht hat man gesagt,
daß solche Verhältnisse ein Analogon fänden in den Stadtgründungen orien¬
talischer Despoten, wenn dieselben Hunderttausende zusammentrieben ohne inneren
Halt, und sie vielleicht nach einigen Jahren wieder ebenso auseinander jagten. Es
sind Fälle vorgekommen, wo nach verhältnißmäßig kurzem Bestehen einer Fabrik¬
industrie dieselbe wieder aufhörte oder verlegt wurde und nun einen Rückstand
von der Gemeinde zu verpflegender Personen zurückließ, der in grellem Mi߬
verhältniß stand zu deu Vortheilen, welche die Gemeinde aus dem Fabrikbetriebe
vielleicht gezogen hatte. Fälle, in denen die der Gemeinde erwachsene Last noch
immer eine gröblich unverhältnißmäßige ist, wenn auch das eben geschilderte
Extrem bei thuen nicht eintrat, können massenhaft beobachtet werden.

Von der socialen Wirkung auf die Arbeitermassen als solche und auf die
in ihnen vorhandenen sittlichen Factoren, die doch wahrlich auch nicht zu unter¬
schätzen ist, ist hierbei noch ganz abgesehen. Die Vertheidiger des unbeschränkten
Jndustricilismus gehen allerdings stets von der Ansicht aus, daß unter allen
Umständen der Segen, den die Industrie verbreite, ein überwiegender sei, und
daß die Gemeinden, in denen die industrielle Entwicklung sich hauptsächlich
vollziehe, die damit verbundene Belästigung eben in den Kauf nehmen müßten.
Dies würde aber doch nur unter der doppelten Voraussetzung richtig sein, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/122>, abgerufen am 23.07.2024.