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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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ist dies der Weg jeder innern, nothwendigen, natürlichen Entwicklung; ihre
Geburtsstunde fällt fast nie mit dem Augenblicke offenkundiger Manifestation
zusammen.

Was die Unklarheit der Begriffe angeht, welche das mangelhafte Ver¬
ständniß von Smith, der Autoritätsglaube, die Schlagwörter und die allmähliche
Meinungseinimpfung des Manchesterthums von England her erzeugt haben, so
kann diese nur durch die äußerste Wachsamkeit über das eigene Unbefangensein,
durch erneutes Studium ohne Voreingenommenheit, durch Ernst und Arbeit
destillirt werden. Statt dessen aber macht sich in wenig erfreulicher Weise das
apodictische Besserwissenwollen und die unfruchtbare rechthaberische Wortklauberei,
ja sogar die vornehme Unwissenheit breit. Und das geschieht am grünen Holze!

Da ist z. B. der Begriff der Autonomie der Zollpolitik, der Begriff der
Gegenseitigkeit, vor Allem die allgemeinsten Begriffe des Schutzzolles, des Frei¬
handels, der Handelsfreiheit, des Manchesterthums, der Socialökonomie, mit
welchen die wunderbarsten Taschenspielereien ausgeführt werden, ganz zu schweigen
von den specielleren Begriffen, dem statistischen Material, womit ein besonderer
Unfug getrieben wird -- Alles unerschöpfliche Sandgruben für den parlamen¬
tarischen Zeloten, Alles unübersehbare unfruchtbare Oeden für den handels-
Politisirenden Sonntagsreiter.

Wenn schon im Allgemeinen die Auffassung, ein Volksvertreter müsse seinen
Wahlkreis so vertreten, wie ein Advocat seinen Klienten, eine unrichtige ist, weil
sie den thatsächlich ganz verschiedenen Verhältnissen nicht entspricht, wenn serner
das Land verlangen kann, nicht einseitige "Plaid oyers" von seinen Reichs¬
tagsabgeordneten zu hören, sondern aus der Vermittlung der Gegensätze hervor¬
gehende, ernste, sachliche und maßvolle Urtheile, so ist ganz besonders in
Fragen der Volkswirtschaft das erstere Verfahren unangebracht. Die Reichs¬
vertreter als Gesetzgeber walten eines Amtes, welches durchaus den Charakter
des Richteramtes hat, nur noch in höherm Grade. Vor allen andern sollten
die volkswirtschaftlichen Fragen nicht vom politischen Parteistand-
Punkte aus beurtheilt werden.

Leider aber ist das "Plaidiren" bei uns in hohem Grade eingerissen. Es
handelt sich dabei weniger um die Sache, beziehungsweise deren materielle gründ¬
liche und klare Darstellung, als vielmehr darum, den Eindruck, den der Vorredner
gemacht hat, entweder zu stärken oder zu verwischen, je nachdem er Fraetions-
gmosse oder Gegner ist. Dabei spielen denn Witz, Entstellung, absichtliches
Mißverständniß, Wortklauberei und Casuistik und leider auch noch Schlimmeres
oft eine weit größere Rolle als die sachlichen Gründe.

Daß bei den volkswirtschaftlichen Fragen die Unklarheit und die Ver¬
mengung der Begriffe, wenigstens für das große Publikum, von dieser Art und


ist dies der Weg jeder innern, nothwendigen, natürlichen Entwicklung; ihre
Geburtsstunde fällt fast nie mit dem Augenblicke offenkundiger Manifestation
zusammen.

Was die Unklarheit der Begriffe angeht, welche das mangelhafte Ver¬
ständniß von Smith, der Autoritätsglaube, die Schlagwörter und die allmähliche
Meinungseinimpfung des Manchesterthums von England her erzeugt haben, so
kann diese nur durch die äußerste Wachsamkeit über das eigene Unbefangensein,
durch erneutes Studium ohne Voreingenommenheit, durch Ernst und Arbeit
destillirt werden. Statt dessen aber macht sich in wenig erfreulicher Weise das
apodictische Besserwissenwollen und die unfruchtbare rechthaberische Wortklauberei,
ja sogar die vornehme Unwissenheit breit. Und das geschieht am grünen Holze!

Da ist z. B. der Begriff der Autonomie der Zollpolitik, der Begriff der
Gegenseitigkeit, vor Allem die allgemeinsten Begriffe des Schutzzolles, des Frei¬
handels, der Handelsfreiheit, des Manchesterthums, der Socialökonomie, mit
welchen die wunderbarsten Taschenspielereien ausgeführt werden, ganz zu schweigen
von den specielleren Begriffen, dem statistischen Material, womit ein besonderer
Unfug getrieben wird — Alles unerschöpfliche Sandgruben für den parlamen¬
tarischen Zeloten, Alles unübersehbare unfruchtbare Oeden für den handels-
Politisirenden Sonntagsreiter.

Wenn schon im Allgemeinen die Auffassung, ein Volksvertreter müsse seinen
Wahlkreis so vertreten, wie ein Advocat seinen Klienten, eine unrichtige ist, weil
sie den thatsächlich ganz verschiedenen Verhältnissen nicht entspricht, wenn serner
das Land verlangen kann, nicht einseitige „Plaid oyers" von seinen Reichs¬
tagsabgeordneten zu hören, sondern aus der Vermittlung der Gegensätze hervor¬
gehende, ernste, sachliche und maßvolle Urtheile, so ist ganz besonders in
Fragen der Volkswirtschaft das erstere Verfahren unangebracht. Die Reichs¬
vertreter als Gesetzgeber walten eines Amtes, welches durchaus den Charakter
des Richteramtes hat, nur noch in höherm Grade. Vor allen andern sollten
die volkswirtschaftlichen Fragen nicht vom politischen Parteistand-
Punkte aus beurtheilt werden.

Leider aber ist das „Plaidiren" bei uns in hohem Grade eingerissen. Es
handelt sich dabei weniger um die Sache, beziehungsweise deren materielle gründ¬
liche und klare Darstellung, als vielmehr darum, den Eindruck, den der Vorredner
gemacht hat, entweder zu stärken oder zu verwischen, je nachdem er Fraetions-
gmosse oder Gegner ist. Dabei spielen denn Witz, Entstellung, absichtliches
Mißverständniß, Wortklauberei und Casuistik und leider auch noch Schlimmeres
oft eine weit größere Rolle als die sachlichen Gründe.

Daß bei den volkswirtschaftlichen Fragen die Unklarheit und die Ver¬
mengung der Begriffe, wenigstens für das große Publikum, von dieser Art und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/97>, abgerufen am 22.07.2024.