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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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ästhetischen Freude. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen unter anderem
die Passions- und Marterdarstellungen, in welchen besonders das vierzehnte und
fünfzehnte Jahrhundert sich hervorgethan hat, eine Beleuchtung, welche thuen,
abgesehen von ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung, eine mildere Beurtheilung zu
Theil werden lassen kann, als unsre humanen Tendenzen ihnen sonst zu gestatten
geneigt sind. An ihnen ersüttigte sich die Begier nach absichtlicher Schmerz¬
erregung, um durch diese des ihr folgenden Wohlgefühls theilhaftig zu werden.
Schmerzerzeugung und Schmerznachempstuduug finden hier beide auf dem Gebiete
der Vorstellung statt.

Unsere Vorstellungsfähigkeit ist jedoch nicht an sinnliche Bilder in Form
und Farbe gefesselt: sie können uns auch durch das Wort mitgetheilt werden
und erreichen vollständig ihren Zweck. Nicht nur die Kinder lieben das Gruseln
beim Anhören schauerlicher Märchen; Schauergeschichten bilden oft genug die
einzige Grundlage ästhetischer Empfindung, die auf ihrer geringen Stufe den¬
noch von hoher Bedeutung für die allmähliche Bildung des feineren ästhetischen
Gefühles ist, in unserer Entwicklung aber eine bedeutsame Stellung einnimmt.
Noch immer ist es die Vorstellung des körperlich Schmerzlichen, was in der
Nachempfindung die schmerzliche Spannung hervorbringt, von welcher befreit zu
werden als ein Wohlgefühl empfunden wird. Aber der nächste Schritt führt
bereits vollständig in das Seelenleben hinein; was wir nachempfinden, ist nicht
mehr der körperliche Schmerz, welchen wir uns am Object vorstellen, sondern
der seelische Schmerz, welchen wir an diesem in Folge irgend eines zunächst
äußeren Leidens, endlich aber in Folge eines seelischen Leidens voraussetzen;
Seele wirkt auf Seele, und das körperliche Gebiet wird nur nebensächlich, nur
als nicht zu umgehende Grundlage behandelt. Das vorgestellte seelische, von
körperlichen Gebrechen unberührte Leiden ist es aber, welchem wir wegen dieser
Reinheit auch die reinste Wirkung zuschreiben. Seinem Wesen nach ist es aber
dennoch nur eine absichtlich hervorgerufene Schmerzerregung, deren höchster
ästhetischer Zweck kein anderer ist, als durch die Befreiung von ihr ein Wohl-
gefühl zu erwecken.

Dieses vorgestellte seelische Leiden wird uns besonders tief ergreifen, wenn
wir für die Persönlichkeit, in welcher es gedacht wird, Sympathie haben. Es
wird aber im höchsten Grade zur Wirkuug kommen, wenn es zugleich die Folge
von Situationen und Handlungen ist, welche wir auch um ihrer selbst willen
als berechtigt anerkennen müssen. Das Mitleiden würde in diesem Falle sich
jedoch zu wahrhaftem Entsetzen steigern müssen und die beabsichtigte Wirkung,
die Befreiung von dem Schmerzgefühl, in uns wesentlich durch ein zurückblei¬
bendes Gefühl der Bitterkeit beeinträchtigt werden, wenn nicht das vorgestellte
Leiden dadurch begründet wäre, daß anch die Ursache, welche das Leiden zur


ästhetischen Freude. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen unter anderem
die Passions- und Marterdarstellungen, in welchen besonders das vierzehnte und
fünfzehnte Jahrhundert sich hervorgethan hat, eine Beleuchtung, welche thuen,
abgesehen von ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung, eine mildere Beurtheilung zu
Theil werden lassen kann, als unsre humanen Tendenzen ihnen sonst zu gestatten
geneigt sind. An ihnen ersüttigte sich die Begier nach absichtlicher Schmerz¬
erregung, um durch diese des ihr folgenden Wohlgefühls theilhaftig zu werden.
Schmerzerzeugung und Schmerznachempstuduug finden hier beide auf dem Gebiete
der Vorstellung statt.

Unsere Vorstellungsfähigkeit ist jedoch nicht an sinnliche Bilder in Form
und Farbe gefesselt: sie können uns auch durch das Wort mitgetheilt werden
und erreichen vollständig ihren Zweck. Nicht nur die Kinder lieben das Gruseln
beim Anhören schauerlicher Märchen; Schauergeschichten bilden oft genug die
einzige Grundlage ästhetischer Empfindung, die auf ihrer geringen Stufe den¬
noch von hoher Bedeutung für die allmähliche Bildung des feineren ästhetischen
Gefühles ist, in unserer Entwicklung aber eine bedeutsame Stellung einnimmt.
Noch immer ist es die Vorstellung des körperlich Schmerzlichen, was in der
Nachempfindung die schmerzliche Spannung hervorbringt, von welcher befreit zu
werden als ein Wohlgefühl empfunden wird. Aber der nächste Schritt führt
bereits vollständig in das Seelenleben hinein; was wir nachempfinden, ist nicht
mehr der körperliche Schmerz, welchen wir uns am Object vorstellen, sondern
der seelische Schmerz, welchen wir an diesem in Folge irgend eines zunächst
äußeren Leidens, endlich aber in Folge eines seelischen Leidens voraussetzen;
Seele wirkt auf Seele, und das körperliche Gebiet wird nur nebensächlich, nur
als nicht zu umgehende Grundlage behandelt. Das vorgestellte seelische, von
körperlichen Gebrechen unberührte Leiden ist es aber, welchem wir wegen dieser
Reinheit auch die reinste Wirkung zuschreiben. Seinem Wesen nach ist es aber
dennoch nur eine absichtlich hervorgerufene Schmerzerregung, deren höchster
ästhetischer Zweck kein anderer ist, als durch die Befreiung von ihr ein Wohl-
gefühl zu erwecken.

Dieses vorgestellte seelische Leiden wird uns besonders tief ergreifen, wenn
wir für die Persönlichkeit, in welcher es gedacht wird, Sympathie haben. Es
wird aber im höchsten Grade zur Wirkuug kommen, wenn es zugleich die Folge
von Situationen und Handlungen ist, welche wir auch um ihrer selbst willen
als berechtigt anerkennen müssen. Das Mitleiden würde in diesem Falle sich
jedoch zu wahrhaftem Entsetzen steigern müssen und die beabsichtigte Wirkung,
die Befreiung von dem Schmerzgefühl, in uns wesentlich durch ein zurückblei¬
bendes Gefühl der Bitterkeit beeinträchtigt werden, wenn nicht das vorgestellte
Leiden dadurch begründet wäre, daß anch die Ursache, welche das Leiden zur


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[0083] ästhetischen Freude. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen unter anderem die Passions- und Marterdarstellungen, in welchen besonders das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert sich hervorgethan hat, eine Beleuchtung, welche thuen, abgesehen von ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung, eine mildere Beurtheilung zu Theil werden lassen kann, als unsre humanen Tendenzen ihnen sonst zu gestatten geneigt sind. An ihnen ersüttigte sich die Begier nach absichtlicher Schmerz¬ erregung, um durch diese des ihr folgenden Wohlgefühls theilhaftig zu werden. Schmerzerzeugung und Schmerznachempstuduug finden hier beide auf dem Gebiete der Vorstellung statt. Unsere Vorstellungsfähigkeit ist jedoch nicht an sinnliche Bilder in Form und Farbe gefesselt: sie können uns auch durch das Wort mitgetheilt werden und erreichen vollständig ihren Zweck. Nicht nur die Kinder lieben das Gruseln beim Anhören schauerlicher Märchen; Schauergeschichten bilden oft genug die einzige Grundlage ästhetischer Empfindung, die auf ihrer geringen Stufe den¬ noch von hoher Bedeutung für die allmähliche Bildung des feineren ästhetischen Gefühles ist, in unserer Entwicklung aber eine bedeutsame Stellung einnimmt. Noch immer ist es die Vorstellung des körperlich Schmerzlichen, was in der Nachempfindung die schmerzliche Spannung hervorbringt, von welcher befreit zu werden als ein Wohlgefühl empfunden wird. Aber der nächste Schritt führt bereits vollständig in das Seelenleben hinein; was wir nachempfinden, ist nicht mehr der körperliche Schmerz, welchen wir uns am Object vorstellen, sondern der seelische Schmerz, welchen wir an diesem in Folge irgend eines zunächst äußeren Leidens, endlich aber in Folge eines seelischen Leidens voraussetzen; Seele wirkt auf Seele, und das körperliche Gebiet wird nur nebensächlich, nur als nicht zu umgehende Grundlage behandelt. Das vorgestellte seelische, von körperlichen Gebrechen unberührte Leiden ist es aber, welchem wir wegen dieser Reinheit auch die reinste Wirkung zuschreiben. Seinem Wesen nach ist es aber dennoch nur eine absichtlich hervorgerufene Schmerzerregung, deren höchster ästhetischer Zweck kein anderer ist, als durch die Befreiung von ihr ein Wohl- gefühl zu erwecken. Dieses vorgestellte seelische Leiden wird uns besonders tief ergreifen, wenn wir für die Persönlichkeit, in welcher es gedacht wird, Sympathie haben. Es wird aber im höchsten Grade zur Wirkuug kommen, wenn es zugleich die Folge von Situationen und Handlungen ist, welche wir auch um ihrer selbst willen als berechtigt anerkennen müssen. Das Mitleiden würde in diesem Falle sich jedoch zu wahrhaftem Entsetzen steigern müssen und die beabsichtigte Wirkung, die Befreiung von dem Schmerzgefühl, in uns wesentlich durch ein zurückblei¬ bendes Gefühl der Bitterkeit beeinträchtigt werden, wenn nicht das vorgestellte Leiden dadurch begründet wäre, daß anch die Ursache, welche das Leiden zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/83>, abgerufen am 22.07.2024.