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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Diese rein körperlichen, in der Psyche jedoch wiederklingenden Vorgänge
werden die Basis für eine höhere Stufe, auf welcher das psychische Leben
mehr in fein Recht tritt, ohne jedoch das körperliche Gebiet in seiner Realität
ganz zu verlassen. An die Stelle der Schmerzerweckung am eignen Körper
tritt die Schmerzerweckung am fremden Körper. Da nun die Verbindung
zwischen dem schmerzempfindenden Körper und der in Thätigkeit gesetzten Vor-
stellungssähigkeit keine unmittelbare ist, so wird die Schmerzerweckung eine mög¬
lichst starke sein müssen, damit die Vorstellungsfähigkeit das nachempfinden des
Schmerzgefühls bewirken kann. Je höher aber dieses letztere ist, desto stärker
wird auch die mit der Wiedererlangung des ursprünglichen Zustandes verbundene
Wohlempfindung sein, sodaß hierin ein Anlaß zu einer möglichsten Steigerung
der Schmerzempfindung im fremden Körper liegt. Erst wenn diese so bedeutend
ist, daß der eigne Körper überschauert wird, ist das Ziel erreicht. So lauge
dagegen das Opfer die Kraft hat, die Schmerzempfindung zu überwinden und
den Marterer nicht merken zu lassen, tritt auch kein nachempfinde" des Schmerzes
ein, und die Absicht der Grausamkeit ist verfehlt. Daher kommt es, daß der
Indianer, der sein Opfer martert, erst dann in Jubel ausbricht, wenn das
Opfer zu wimmern und zu schreien anfängt, selbst aber nichts empfindet, so
lange das Opfer standhaft jede Schmerzensäußerung unterdrückt. Es liegt also
hier eine zur Erzeugung eiues Wohlgefühls absichtlich hervorgebrachte Schmerz¬
empfindung vor, welche jedoch real im fremden Körper erlebt, der eignen Psyche
aber durch die Vorstellungsfähigkeit vermittelt wird, welche letztere somit als
neues Element in den Vorgang eingetreten ist.

War die Vorstellungsfähigkeit hier nur das vermittelnde Element, so über¬
nimmt sie auf der nächsten Seite eine wichtigere Rolle: der schmerzempsindende
Körper wird ersetzt durch das Bild eines schmerzempfindenden Körpers. Die
Welt der Realität wird verlassen, insofern der die Nachempfindung anregende
Schmerz überhaupt nicht mehr thatsächlich empfunden wird, und der Schritt in
die ästhetische Betrachtungsweise ist vollzogen: an die Stelle des Objectes tritt
die Vorstellung von dem Objecte. Dieser uus durch seineu alltäglichen Vor¬
gang so selbstverständlich scheinende Schritt schließt doch die folgewichtigste
Entwicklung in sich. Wer ihn in seinen einfachsten Formen ausführen kann, ist
Mensch; wer dies uicht vermag, ist Thier. Für unsre Betrachtung bezeichnet
er aber in dieser bestimmten Form einen unschätzbaren Fortschritt in der Cultur¬
geschichte: sobald das Bild der Schmerzempfindung genügte, um durch die Vor¬
stellungsfähigkeit jene Schauer zu erwecken, welche die Vorbedingung des hier
betrachteten Wohlgefühls sind, konnte diese Neigung ohne reale Schmerzhervor-
bringung befriedigt werden, die Grausamkeit konnte abnehmen und hat abge¬
nommen, die Freude am Schmerz hört auf eine reale zu sein, sie wird zur


Diese rein körperlichen, in der Psyche jedoch wiederklingenden Vorgänge
werden die Basis für eine höhere Stufe, auf welcher das psychische Leben
mehr in fein Recht tritt, ohne jedoch das körperliche Gebiet in seiner Realität
ganz zu verlassen. An die Stelle der Schmerzerweckung am eignen Körper
tritt die Schmerzerweckung am fremden Körper. Da nun die Verbindung
zwischen dem schmerzempfindenden Körper und der in Thätigkeit gesetzten Vor-
stellungssähigkeit keine unmittelbare ist, so wird die Schmerzerweckung eine mög¬
lichst starke sein müssen, damit die Vorstellungsfähigkeit das nachempfinden des
Schmerzgefühls bewirken kann. Je höher aber dieses letztere ist, desto stärker
wird auch die mit der Wiedererlangung des ursprünglichen Zustandes verbundene
Wohlempfindung sein, sodaß hierin ein Anlaß zu einer möglichsten Steigerung
der Schmerzempfindung im fremden Körper liegt. Erst wenn diese so bedeutend
ist, daß der eigne Körper überschauert wird, ist das Ziel erreicht. So lauge
dagegen das Opfer die Kraft hat, die Schmerzempfindung zu überwinden und
den Marterer nicht merken zu lassen, tritt auch kein nachempfinde» des Schmerzes
ein, und die Absicht der Grausamkeit ist verfehlt. Daher kommt es, daß der
Indianer, der sein Opfer martert, erst dann in Jubel ausbricht, wenn das
Opfer zu wimmern und zu schreien anfängt, selbst aber nichts empfindet, so
lange das Opfer standhaft jede Schmerzensäußerung unterdrückt. Es liegt also
hier eine zur Erzeugung eiues Wohlgefühls absichtlich hervorgebrachte Schmerz¬
empfindung vor, welche jedoch real im fremden Körper erlebt, der eignen Psyche
aber durch die Vorstellungsfähigkeit vermittelt wird, welche letztere somit als
neues Element in den Vorgang eingetreten ist.

War die Vorstellungsfähigkeit hier nur das vermittelnde Element, so über¬
nimmt sie auf der nächsten Seite eine wichtigere Rolle: der schmerzempsindende
Körper wird ersetzt durch das Bild eines schmerzempfindenden Körpers. Die
Welt der Realität wird verlassen, insofern der die Nachempfindung anregende
Schmerz überhaupt nicht mehr thatsächlich empfunden wird, und der Schritt in
die ästhetische Betrachtungsweise ist vollzogen: an die Stelle des Objectes tritt
die Vorstellung von dem Objecte. Dieser uus durch seineu alltäglichen Vor¬
gang so selbstverständlich scheinende Schritt schließt doch die folgewichtigste
Entwicklung in sich. Wer ihn in seinen einfachsten Formen ausführen kann, ist
Mensch; wer dies uicht vermag, ist Thier. Für unsre Betrachtung bezeichnet
er aber in dieser bestimmten Form einen unschätzbaren Fortschritt in der Cultur¬
geschichte: sobald das Bild der Schmerzempfindung genügte, um durch die Vor¬
stellungsfähigkeit jene Schauer zu erwecken, welche die Vorbedingung des hier
betrachteten Wohlgefühls sind, konnte diese Neigung ohne reale Schmerzhervor-
bringung befriedigt werden, die Grausamkeit konnte abnehmen und hat abge¬
nommen, die Freude am Schmerz hört auf eine reale zu sein, sie wird zur


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[0082] Diese rein körperlichen, in der Psyche jedoch wiederklingenden Vorgänge werden die Basis für eine höhere Stufe, auf welcher das psychische Leben mehr in fein Recht tritt, ohne jedoch das körperliche Gebiet in seiner Realität ganz zu verlassen. An die Stelle der Schmerzerweckung am eignen Körper tritt die Schmerzerweckung am fremden Körper. Da nun die Verbindung zwischen dem schmerzempfindenden Körper und der in Thätigkeit gesetzten Vor- stellungssähigkeit keine unmittelbare ist, so wird die Schmerzerweckung eine mög¬ lichst starke sein müssen, damit die Vorstellungsfähigkeit das nachempfinden des Schmerzgefühls bewirken kann. Je höher aber dieses letztere ist, desto stärker wird auch die mit der Wiedererlangung des ursprünglichen Zustandes verbundene Wohlempfindung sein, sodaß hierin ein Anlaß zu einer möglichsten Steigerung der Schmerzempfindung im fremden Körper liegt. Erst wenn diese so bedeutend ist, daß der eigne Körper überschauert wird, ist das Ziel erreicht. So lauge dagegen das Opfer die Kraft hat, die Schmerzempfindung zu überwinden und den Marterer nicht merken zu lassen, tritt auch kein nachempfinde» des Schmerzes ein, und die Absicht der Grausamkeit ist verfehlt. Daher kommt es, daß der Indianer, der sein Opfer martert, erst dann in Jubel ausbricht, wenn das Opfer zu wimmern und zu schreien anfängt, selbst aber nichts empfindet, so lange das Opfer standhaft jede Schmerzensäußerung unterdrückt. Es liegt also hier eine zur Erzeugung eiues Wohlgefühls absichtlich hervorgebrachte Schmerz¬ empfindung vor, welche jedoch real im fremden Körper erlebt, der eignen Psyche aber durch die Vorstellungsfähigkeit vermittelt wird, welche letztere somit als neues Element in den Vorgang eingetreten ist. War die Vorstellungsfähigkeit hier nur das vermittelnde Element, so über¬ nimmt sie auf der nächsten Seite eine wichtigere Rolle: der schmerzempsindende Körper wird ersetzt durch das Bild eines schmerzempfindenden Körpers. Die Welt der Realität wird verlassen, insofern der die Nachempfindung anregende Schmerz überhaupt nicht mehr thatsächlich empfunden wird, und der Schritt in die ästhetische Betrachtungsweise ist vollzogen: an die Stelle des Objectes tritt die Vorstellung von dem Objecte. Dieser uus durch seineu alltäglichen Vor¬ gang so selbstverständlich scheinende Schritt schließt doch die folgewichtigste Entwicklung in sich. Wer ihn in seinen einfachsten Formen ausführen kann, ist Mensch; wer dies uicht vermag, ist Thier. Für unsre Betrachtung bezeichnet er aber in dieser bestimmten Form einen unschätzbaren Fortschritt in der Cultur¬ geschichte: sobald das Bild der Schmerzempfindung genügte, um durch die Vor¬ stellungsfähigkeit jene Schauer zu erwecken, welche die Vorbedingung des hier betrachteten Wohlgefühls sind, konnte diese Neigung ohne reale Schmerzhervor- bringung befriedigt werden, die Grausamkeit konnte abnehmen und hat abge¬ nommen, die Freude am Schmerz hört auf eine reale zu sein, sie wird zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/82>, abgerufen am 22.07.2024.