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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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für einzelne Theile seiner Gruppe, für die Unterliegenden, und diese sind es ja
gerade, die uns zum Theil erhalten find, der oder die Meister der beiden
Einzelwerke für diese ihre Werke tragische Empfindung als künstlerische Wirkung
erstrebt haben. Ist nun diese Wirkung erreicht, und welche Mittel sind für die
beabsichtigte Wirkung erstrebt? Es ist kein Zweifel, daß eine Lösung dieser
Fragen für die Auffassungsweise der ganzen Zeit, für die ästhetische Bedeutung
ihrer Kunstwerke von entscheidender Wichtigkeit ist. Von diesem Gesichtspunkte
aus soll sie in Folgendem versucht werden.


2.

Wir wenden den Ausdruck "tragisch" häufig auch da an, wo allerdings
dem Tragischen verwandte Empfindungen hervortreten, eine scharfe Fassung des
Begriffes aber seine Anwendung dennoch verbietet. Kunstwerken gegenüber, zu¬
mal solchen von der Bedeutung der pergamenischen Sculpturen, kann jedoch der
Begriff nicht scharf genug gefaßt werden, wenn ihre Würdigung eine gerechte
sein soll. Wir können uns daher einer Untersuchung des Begriffes nicht ent¬
ziehen und gedenken es um so weniger zu thun, als der einzuschlagende Weg
vielleicht ein selbständiges Interesse darbietet.

Die Freude am Tragischen sowie an den ihm verwandten Empfindungen
beruht auf dem gemeinsamen Boden der nicht allzuleicht verständlichen und doch
thatsächliche!: Freude am Schmerz. Soll diese auf dem aesthetischen Gebiete be¬
greiflich werden, so kann dies nur dadurch geschehen, daß wir auf das ursprüngliche
Gebiet des Schmerzes zurückgreifen und hier nach analogen Erscheinungen suchen.
Das Wesen des Schmerzes ist überall dasselbe. Je elementarer jedoch seine
Aeußerungen sind, um fo eher können sie in ihrer Eigenthümlichkeit erfaßt
werden.

Das ursprünglichste Gebiet des Schmerzes ist der Körper, und sein Auf¬
treten sicherlich nichts Erfreuliches. Um so erfreulicher aber ist die Empfindung,
welche sich beim Aufhören des Schmerzes einstellt, so daß sich die Erlangung
des ursprünglichen Zustandes der Schmerzlosigkeit, welcher vorher als selb¬
ständige Empfindung nicht zum Bewußtsein gekommen war, jetzt als positive Em¬
pfindung eines Wonnegefühls bemerklich macht, als solche jedoch wieder aufhört
und in dem Gesammtbewußtsein aufgeht, sobald der Zustand der Schmerzlosig¬
keit zum dauernden wird. Die einfachsten Beispiele bieten die alltäglichen
Functionen des Körpers: jede Befreiung von einem vom Unbehagen bis zum
Schmerze sich steigernden Drange erregt ein dem Grade nach dem Drange selbst
entsprechendes Wonnegefühl, das sich allmählich verliert, da der neugewonnene
Zustand bald in Folge seiner Dauer nicht mehr in seiner Besonderheit empfunden
Wird. So geht die Empfindung allmählich in den Zustand der Gleichgiltigkeit


für einzelne Theile seiner Gruppe, für die Unterliegenden, und diese sind es ja
gerade, die uns zum Theil erhalten find, der oder die Meister der beiden
Einzelwerke für diese ihre Werke tragische Empfindung als künstlerische Wirkung
erstrebt haben. Ist nun diese Wirkung erreicht, und welche Mittel sind für die
beabsichtigte Wirkung erstrebt? Es ist kein Zweifel, daß eine Lösung dieser
Fragen für die Auffassungsweise der ganzen Zeit, für die ästhetische Bedeutung
ihrer Kunstwerke von entscheidender Wichtigkeit ist. Von diesem Gesichtspunkte
aus soll sie in Folgendem versucht werden.


2.

Wir wenden den Ausdruck „tragisch" häufig auch da an, wo allerdings
dem Tragischen verwandte Empfindungen hervortreten, eine scharfe Fassung des
Begriffes aber seine Anwendung dennoch verbietet. Kunstwerken gegenüber, zu¬
mal solchen von der Bedeutung der pergamenischen Sculpturen, kann jedoch der
Begriff nicht scharf genug gefaßt werden, wenn ihre Würdigung eine gerechte
sein soll. Wir können uns daher einer Untersuchung des Begriffes nicht ent¬
ziehen und gedenken es um so weniger zu thun, als der einzuschlagende Weg
vielleicht ein selbständiges Interesse darbietet.

Die Freude am Tragischen sowie an den ihm verwandten Empfindungen
beruht auf dem gemeinsamen Boden der nicht allzuleicht verständlichen und doch
thatsächliche!: Freude am Schmerz. Soll diese auf dem aesthetischen Gebiete be¬
greiflich werden, so kann dies nur dadurch geschehen, daß wir auf das ursprüngliche
Gebiet des Schmerzes zurückgreifen und hier nach analogen Erscheinungen suchen.
Das Wesen des Schmerzes ist überall dasselbe. Je elementarer jedoch seine
Aeußerungen sind, um fo eher können sie in ihrer Eigenthümlichkeit erfaßt
werden.

Das ursprünglichste Gebiet des Schmerzes ist der Körper, und sein Auf¬
treten sicherlich nichts Erfreuliches. Um so erfreulicher aber ist die Empfindung,
welche sich beim Aufhören des Schmerzes einstellt, so daß sich die Erlangung
des ursprünglichen Zustandes der Schmerzlosigkeit, welcher vorher als selb¬
ständige Empfindung nicht zum Bewußtsein gekommen war, jetzt als positive Em¬
pfindung eines Wonnegefühls bemerklich macht, als solche jedoch wieder aufhört
und in dem Gesammtbewußtsein aufgeht, sobald der Zustand der Schmerzlosig¬
keit zum dauernden wird. Die einfachsten Beispiele bieten die alltäglichen
Functionen des Körpers: jede Befreiung von einem vom Unbehagen bis zum
Schmerze sich steigernden Drange erregt ein dem Grade nach dem Drange selbst
entsprechendes Wonnegefühl, das sich allmählich verliert, da der neugewonnene
Zustand bald in Folge seiner Dauer nicht mehr in seiner Besonderheit empfunden
Wird. So geht die Empfindung allmählich in den Zustand der Gleichgiltigkeit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/80>, abgerufen am 03.07.2024.