Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

einleitet. Nach der Thora nimmt man die anderen kanonischen Schriften des alten
Testaments und nach diesen den Talmud vor. An jedem Freitage wird außerdem
das rituelle Absingen des biblischen Wochenabschnittes nach bestimmten Notenzeichen
(Ngine) gelehrt. Beim Lesen der heiligen Bücher bedient sich der Melamed einer
"absurden Uebersetzung", und es wird Alles mit Einschluß der das Schamgefühl
abstumpfenden Stellen durchgenommen. Der grammatische Unterricht "findet keine
Pflege, und die Pflicht- und Sittenlehre ist, wo sie nicht gerade aus dem Bibel¬
unterricht emanirt, ein völlig unbebautes Feld".

"In weit größerem Ansehen als die Thora steht bei den orthodoxen Juden
der Talmud, und dein entsprechend wird letzterer besonders fleißig studirt, Schon
das sechsjährige Bürschchen muß sich durch die schwierigsten Stellen der collidirenden
Rechtsansichten der alten Rabbiner hindurchmühen, damit es seinen Lechel (Verstand)
Schleife^ eine frühzeitige Arbeit, die einerseits in dem jüdischen Knaben überraschenden
Scharfsinn, andererseits aber auch scholastische Spitzfindigkeit, Sophistik und eine
höheren Idealen abholde, speculative, materialistische Geistesrichtung entwickelt" --
wohlgemerkt entwickelt; denn alles das muß im jüdischen Geiste schon von vorn¬
herein liegen, da sonst der Talmud nicht entstanden sein würde. Selbstverständlich
"entwickelt" dieses Studium auch den Hochmuth und deu Haß gegenüber allen Nicht-
juden, der sich in vielen Stellen des Talmud ausprägt, aus's kräftigste. Mit dem
Mädchen giebt man sich auch hier wenig Mühe, sie lernen hebräisch lesen und
einige Gebete. Viele von denen, die besseren Unterricht genießen und.selbst Uni¬
versitäten besuchen, werden überspannte Emancipirte, und mehrere nahmen an der
nihilistischen Verschwörung theil, bei der auch verhältnißmäßig viele junge Männer
ihres Volkes, wie wir wissen, wichtige Rollen gespielt haben.

Mit dem dreizehnten Lebensjahre wird der polnische Jude durch die Ceremonie
des "Balmizwo" (eigentlich Herr des Gebots), bei der er in der Synagoge zum
ersten Mal zum Segensspruch über die Thora aufgerufen wird, zum mitzählenden
und für sich selbst Verantwortlicher Gemcindegliede erhoben. Voll jetzt an werden
ihm seine Sünden, für die bisher sein Vater die Verantwortung trug, von Gott
angerechnet. Das Joch des Gesetzes mit seinen 613 Geboten und Verboten ruht
fortan auf seinen Schultern. Dafür gilt er aber auch für voll, wenn es sich um
den Zusammentritt einer Betgemeinde, zu welcher zehn, oder wenn es sich um das
Nachtischgebet handelt, zu welchem drei männliche Personen gehören. Er ist ferner
berechtigt und zugleich verpflichtet, wenn ihm der Vater gestorben ist, in der Syna¬
goge vor versammelter Gemeinde Kaddisch zu sagen, d. h. vor dem Schrein mit
den Thorarollen für die Seele des Verstorbenen ein bestimmtes Gebet zu sprechen.
Das letztere enthält durchaus nichts vom Tode und dem jenseitigen Leben, sondern
nur eine Lobpreisung Gottes und eine Bitte um Frieden und Ausbreitung des
göttlichen Reiches auf Erden. Nach der Lehre einiger alten Rabbinen aber müssen
es die Söhne Verstorbener an allen Sabbathen, Feiertagen und Neumonden in der


Grenzboten II. 1S80. S

einleitet. Nach der Thora nimmt man die anderen kanonischen Schriften des alten
Testaments und nach diesen den Talmud vor. An jedem Freitage wird außerdem
das rituelle Absingen des biblischen Wochenabschnittes nach bestimmten Notenzeichen
(Ngine) gelehrt. Beim Lesen der heiligen Bücher bedient sich der Melamed einer
„absurden Uebersetzung", und es wird Alles mit Einschluß der das Schamgefühl
abstumpfenden Stellen durchgenommen. Der grammatische Unterricht „findet keine
Pflege, und die Pflicht- und Sittenlehre ist, wo sie nicht gerade aus dem Bibel¬
unterricht emanirt, ein völlig unbebautes Feld".

„In weit größerem Ansehen als die Thora steht bei den orthodoxen Juden
der Talmud, und dein entsprechend wird letzterer besonders fleißig studirt, Schon
das sechsjährige Bürschchen muß sich durch die schwierigsten Stellen der collidirenden
Rechtsansichten der alten Rabbiner hindurchmühen, damit es seinen Lechel (Verstand)
Schleife^ eine frühzeitige Arbeit, die einerseits in dem jüdischen Knaben überraschenden
Scharfsinn, andererseits aber auch scholastische Spitzfindigkeit, Sophistik und eine
höheren Idealen abholde, speculative, materialistische Geistesrichtung entwickelt" —
wohlgemerkt entwickelt; denn alles das muß im jüdischen Geiste schon von vorn¬
herein liegen, da sonst der Talmud nicht entstanden sein würde. Selbstverständlich
„entwickelt" dieses Studium auch den Hochmuth und deu Haß gegenüber allen Nicht-
juden, der sich in vielen Stellen des Talmud ausprägt, aus's kräftigste. Mit dem
Mädchen giebt man sich auch hier wenig Mühe, sie lernen hebräisch lesen und
einige Gebete. Viele von denen, die besseren Unterricht genießen und.selbst Uni¬
versitäten besuchen, werden überspannte Emancipirte, und mehrere nahmen an der
nihilistischen Verschwörung theil, bei der auch verhältnißmäßig viele junge Männer
ihres Volkes, wie wir wissen, wichtige Rollen gespielt haben.

Mit dem dreizehnten Lebensjahre wird der polnische Jude durch die Ceremonie
des „Balmizwo" (eigentlich Herr des Gebots), bei der er in der Synagoge zum
ersten Mal zum Segensspruch über die Thora aufgerufen wird, zum mitzählenden
und für sich selbst Verantwortlicher Gemcindegliede erhoben. Voll jetzt an werden
ihm seine Sünden, für die bisher sein Vater die Verantwortung trug, von Gott
angerechnet. Das Joch des Gesetzes mit seinen 613 Geboten und Verboten ruht
fortan auf seinen Schultern. Dafür gilt er aber auch für voll, wenn es sich um
den Zusammentritt einer Betgemeinde, zu welcher zehn, oder wenn es sich um das
Nachtischgebet handelt, zu welchem drei männliche Personen gehören. Er ist ferner
berechtigt und zugleich verpflichtet, wenn ihm der Vater gestorben ist, in der Syna¬
goge vor versammelter Gemeinde Kaddisch zu sagen, d. h. vor dem Schrein mit
den Thorarollen für die Seele des Verstorbenen ein bestimmtes Gebet zu sprechen.
Das letztere enthält durchaus nichts vom Tode und dem jenseitigen Leben, sondern
nur eine Lobpreisung Gottes und eine Bitte um Frieden und Ausbreitung des
göttlichen Reiches auf Erden. Nach der Lehre einiger alten Rabbinen aber müssen
es die Söhne Verstorbener an allen Sabbathen, Feiertagen und Neumonden in der


Grenzboten II. 1S80. S
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0069" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146574"/>
          <p xml:id="ID_195" prev="#ID_194"> einleitet. Nach der Thora nimmt man die anderen kanonischen Schriften des alten<lb/>
Testaments und nach diesen den Talmud vor. An jedem Freitage wird außerdem<lb/>
das rituelle Absingen des biblischen Wochenabschnittes nach bestimmten Notenzeichen<lb/>
(Ngine) gelehrt. Beim Lesen der heiligen Bücher bedient sich der Melamed einer<lb/>
&#x201E;absurden Uebersetzung", und es wird Alles mit Einschluß der das Schamgefühl<lb/>
abstumpfenden Stellen durchgenommen. Der grammatische Unterricht &#x201E;findet keine<lb/>
Pflege, und die Pflicht- und Sittenlehre ist, wo sie nicht gerade aus dem Bibel¬<lb/>
unterricht emanirt, ein völlig unbebautes Feld".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_196"> &#x201E;In weit größerem Ansehen als die Thora steht bei den orthodoxen Juden<lb/>
der Talmud, und dein entsprechend wird letzterer besonders fleißig studirt, Schon<lb/>
das sechsjährige Bürschchen muß sich durch die schwierigsten Stellen der collidirenden<lb/>
Rechtsansichten der alten Rabbiner hindurchmühen, damit es seinen Lechel (Verstand)<lb/>
Schleife^ eine frühzeitige Arbeit, die einerseits in dem jüdischen Knaben überraschenden<lb/>
Scharfsinn, andererseits aber auch scholastische Spitzfindigkeit, Sophistik und eine<lb/>
höheren Idealen abholde, speculative, materialistische Geistesrichtung entwickelt" &#x2014;<lb/>
wohlgemerkt entwickelt; denn alles das muß im jüdischen Geiste schon von vorn¬<lb/>
herein liegen, da sonst der Talmud nicht entstanden sein würde. Selbstverständlich<lb/>
&#x201E;entwickelt" dieses Studium auch den Hochmuth und deu Haß gegenüber allen Nicht-<lb/>
juden, der sich in vielen Stellen des Talmud ausprägt, aus's kräftigste. Mit dem<lb/>
Mädchen giebt man sich auch hier wenig Mühe, sie lernen hebräisch lesen und<lb/>
einige Gebete. Viele von denen, die besseren Unterricht genießen und.selbst Uni¬<lb/>
versitäten besuchen, werden überspannte Emancipirte, und mehrere nahmen an der<lb/>
nihilistischen Verschwörung theil, bei der auch verhältnißmäßig viele junge Männer<lb/>
ihres Volkes, wie wir wissen, wichtige Rollen gespielt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_197" next="#ID_198"> Mit dem dreizehnten Lebensjahre wird der polnische Jude durch die Ceremonie<lb/>
des &#x201E;Balmizwo" (eigentlich Herr des Gebots), bei der er in der Synagoge zum<lb/>
ersten Mal zum Segensspruch über die Thora aufgerufen wird, zum mitzählenden<lb/>
und für sich selbst Verantwortlicher Gemcindegliede erhoben. Voll jetzt an werden<lb/>
ihm seine Sünden, für die bisher sein Vater die Verantwortung trug, von Gott<lb/>
angerechnet. Das Joch des Gesetzes mit seinen 613 Geboten und Verboten ruht<lb/>
fortan auf seinen Schultern. Dafür gilt er aber auch für voll, wenn es sich um<lb/>
den Zusammentritt einer Betgemeinde, zu welcher zehn, oder wenn es sich um das<lb/>
Nachtischgebet handelt, zu welchem drei männliche Personen gehören. Er ist ferner<lb/>
berechtigt und zugleich verpflichtet, wenn ihm der Vater gestorben ist, in der Syna¬<lb/>
goge vor versammelter Gemeinde Kaddisch zu sagen, d. h. vor dem Schrein mit<lb/>
den Thorarollen für die Seele des Verstorbenen ein bestimmtes Gebet zu sprechen.<lb/>
Das letztere enthält durchaus nichts vom Tode und dem jenseitigen Leben, sondern<lb/>
nur eine Lobpreisung Gottes und eine Bitte um Frieden und Ausbreitung des<lb/>
göttlichen Reiches auf Erden. Nach der Lehre einiger alten Rabbinen aber müssen<lb/>
es die Söhne Verstorbener an allen Sabbathen, Feiertagen und Neumonden in der</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1S80. S</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0069] einleitet. Nach der Thora nimmt man die anderen kanonischen Schriften des alten Testaments und nach diesen den Talmud vor. An jedem Freitage wird außerdem das rituelle Absingen des biblischen Wochenabschnittes nach bestimmten Notenzeichen (Ngine) gelehrt. Beim Lesen der heiligen Bücher bedient sich der Melamed einer „absurden Uebersetzung", und es wird Alles mit Einschluß der das Schamgefühl abstumpfenden Stellen durchgenommen. Der grammatische Unterricht „findet keine Pflege, und die Pflicht- und Sittenlehre ist, wo sie nicht gerade aus dem Bibel¬ unterricht emanirt, ein völlig unbebautes Feld". „In weit größerem Ansehen als die Thora steht bei den orthodoxen Juden der Talmud, und dein entsprechend wird letzterer besonders fleißig studirt, Schon das sechsjährige Bürschchen muß sich durch die schwierigsten Stellen der collidirenden Rechtsansichten der alten Rabbiner hindurchmühen, damit es seinen Lechel (Verstand) Schleife^ eine frühzeitige Arbeit, die einerseits in dem jüdischen Knaben überraschenden Scharfsinn, andererseits aber auch scholastische Spitzfindigkeit, Sophistik und eine höheren Idealen abholde, speculative, materialistische Geistesrichtung entwickelt" — wohlgemerkt entwickelt; denn alles das muß im jüdischen Geiste schon von vorn¬ herein liegen, da sonst der Talmud nicht entstanden sein würde. Selbstverständlich „entwickelt" dieses Studium auch den Hochmuth und deu Haß gegenüber allen Nicht- juden, der sich in vielen Stellen des Talmud ausprägt, aus's kräftigste. Mit dem Mädchen giebt man sich auch hier wenig Mühe, sie lernen hebräisch lesen und einige Gebete. Viele von denen, die besseren Unterricht genießen und.selbst Uni¬ versitäten besuchen, werden überspannte Emancipirte, und mehrere nahmen an der nihilistischen Verschwörung theil, bei der auch verhältnißmäßig viele junge Männer ihres Volkes, wie wir wissen, wichtige Rollen gespielt haben. Mit dem dreizehnten Lebensjahre wird der polnische Jude durch die Ceremonie des „Balmizwo" (eigentlich Herr des Gebots), bei der er in der Synagoge zum ersten Mal zum Segensspruch über die Thora aufgerufen wird, zum mitzählenden und für sich selbst Verantwortlicher Gemcindegliede erhoben. Voll jetzt an werden ihm seine Sünden, für die bisher sein Vater die Verantwortung trug, von Gott angerechnet. Das Joch des Gesetzes mit seinen 613 Geboten und Verboten ruht fortan auf seinen Schultern. Dafür gilt er aber auch für voll, wenn es sich um den Zusammentritt einer Betgemeinde, zu welcher zehn, oder wenn es sich um das Nachtischgebet handelt, zu welchem drei männliche Personen gehören. Er ist ferner berechtigt und zugleich verpflichtet, wenn ihm der Vater gestorben ist, in der Syna¬ goge vor versammelter Gemeinde Kaddisch zu sagen, d. h. vor dem Schrein mit den Thorarollen für die Seele des Verstorbenen ein bestimmtes Gebet zu sprechen. Das letztere enthält durchaus nichts vom Tode und dem jenseitigen Leben, sondern nur eine Lobpreisung Gottes und eine Bitte um Frieden und Ausbreitung des göttlichen Reiches auf Erden. Nach der Lehre einiger alten Rabbinen aber müssen es die Söhne Verstorbener an allen Sabbathen, Feiertagen und Neumonden in der Grenzboten II. 1S80. S

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/69
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/69>, abgerufen am 22.07.2024.