Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.Günstiger als mit dem Feldbaue steht es mit dem Handwerke. Die Uhrmacher Vielfach behauptet starrer, der Bildung feindlicher Fanatismus die Herrschaft. Diese polnischen oder westrussischen Juden sind, wie bemerkt, gleich den weiter Günstiger als mit dem Feldbaue steht es mit dem Handwerke. Die Uhrmacher Vielfach behauptet starrer, der Bildung feindlicher Fanatismus die Herrschaft. Diese polnischen oder westrussischen Juden sind, wie bemerkt, gleich den weiter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146567"/> <p xml:id="ID_170"> Günstiger als mit dem Feldbaue steht es mit dem Handwerke. Die Uhrmacher<lb/> und Goldarbeiter in Polen und Lithauen sind ausnahmslos Juden. Man sieht<lb/> aber auch jüdische Maurer und Zimmerleute, Schmiede, Pflasterer, Dachdecker und<lb/> Wasserführer; desgleichen befinden sich uuter den Arbeitern der Fabrikgegenden von<lb/> Lodz, Zgierz, Thomaschow und Bjelostok viele Jsraeliten — natürlich, da bei der<lb/> Dichtheit der jüdischen Bevölkerung nicht alle thun können, was sie möchten. Die<lb/> Haupt- und Lieblingsgewerbe dieser polnischen Semiten nämlich bilden der Handel,<lb/> besonders der Kleinhandel, die Winkeladvocatnr, das Halten von Winkelschulen, die<lb/> schaut- und Gastwirthschaft und das Geschäft der „Factoren" oder Commissionäre.<lb/> Die Juden „regeln (will sagen: regieren) in den westlichen Provinzen den Handel<lb/> und Wandel" und sind für den Reisenden und den einwandernden deutschen Fabri¬<lb/> kanten unentbehrliche Unterhändler, Der Wucher blüht daneben unter ihnen „noch<lb/> üppig", und noch jetzt helfen sie dem polnische,: Adel bei dem Bemühen, sich wirth¬<lb/> schaftlich zu Grunde zu richten.</p><lb/> <p xml:id="ID_171"> Vielfach behauptet starrer, der Bildung feindlicher Fanatismus die Herrschaft.<lb/> Doch scheint unter den Wohlhabenden hie und da ein dem entgegengesetztes Streben<lb/> erwacht zu sein, mir wandern Leute aus diesen Kreisen viel weniger zu uns aus,<lb/> als aus den unbemittelten und ungebildeten. Nach dem Journale des Ministeriums<lb/> der Volksaufklärung gab es 1878 in den Gymnasien und Progymnasien des russi¬<lb/> schen Reiches 5012 jüdische Schüler. Das günstigste Verhältniß zwischen solchen<lb/> und christlichen wiesen nicht die an Deutschland grenzenden Bezirke, sondern zuoberst<lb/> Odessa, dann Wilna und zuletzt Warschau auf, wo die Stadt gleichen Namens bei<lb/> einer Gesammteinwohnerzahl von etwa 320 000 nicht weniger als 110000 Juden hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_172" next="#ID_173"> Diese polnischen oder westrussischen Juden sind, wie bemerkt, gleich den weiter<lb/> östlich wohnenden durchgehends Aschkenasim und sprechen unter sich das sogenannte<lb/> Judendeutsch, einen Dialekt, der im Wesentlichen ein Gemisch aus verdorbenen hoch¬<lb/> deutschen und hebräischen Elementen ist. Beim Schreiben von Briefen und andern<lb/> Aufzeichnungen in diesem Idiome bedient man sich der hebräischen Charaktere, in<lb/> denen auch ein großer Theil der volkstümlichen Schriften, sowie die in den Syna¬<lb/> gogen hie und da gebräuchlichen Gebetbücher gedruckt sind. Im Judendeutsch, das<lb/> auch im Posenschen und andern östlichen Gegenden Deutschlands, sowie in Galizien<lb/> und Ungarn von der niederen Klasse der semitischen Bevölkerung durchgehends und<lb/> theilweise selbst von den Wohlhabenden gesprochen wird, unterscheidet man vier<lb/> Hauptelemente: 1) das Hebräische, das besonders für Gegenstände der Religion und<lb/> der von ihr vorgeschriebenen Gebräuche sowie für Begriffe, welche aus dem Talmud<lb/> oder der Kabbala stammen, dann zur Bezeichnung einiger Dinge des täglichen<lb/> Lebens, die man absichtlich nicht deutsch benannte, gebräuchlich ist; 2) Zusammen¬<lb/> setzungen aus dein Deutschen und Hebräischen, wie „matzil sein" (erretten), „dar-<lb/> schcmen" (predigen), „chendig" (anmuthig), „Schabbeslicht", „Habdalabüchse" (Gewürz¬<lb/> büchse) und die zu Wörtern gewordenen Abbreviaturen „Ra-T" (Reichsthaler),<lb/> „Pa-G" (preußischer Groschen), sowie etliche andere; 3) ungebräuchliches oder fehler¬<lb/> haftes Deutsch, z. B. „lernen" (Talmud studiren) „Pausen", „Austern", „Mensch"</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0062]
Günstiger als mit dem Feldbaue steht es mit dem Handwerke. Die Uhrmacher
und Goldarbeiter in Polen und Lithauen sind ausnahmslos Juden. Man sieht
aber auch jüdische Maurer und Zimmerleute, Schmiede, Pflasterer, Dachdecker und
Wasserführer; desgleichen befinden sich uuter den Arbeitern der Fabrikgegenden von
Lodz, Zgierz, Thomaschow und Bjelostok viele Jsraeliten — natürlich, da bei der
Dichtheit der jüdischen Bevölkerung nicht alle thun können, was sie möchten. Die
Haupt- und Lieblingsgewerbe dieser polnischen Semiten nämlich bilden der Handel,
besonders der Kleinhandel, die Winkeladvocatnr, das Halten von Winkelschulen, die
schaut- und Gastwirthschaft und das Geschäft der „Factoren" oder Commissionäre.
Die Juden „regeln (will sagen: regieren) in den westlichen Provinzen den Handel
und Wandel" und sind für den Reisenden und den einwandernden deutschen Fabri¬
kanten unentbehrliche Unterhändler, Der Wucher blüht daneben unter ihnen „noch
üppig", und noch jetzt helfen sie dem polnische,: Adel bei dem Bemühen, sich wirth¬
schaftlich zu Grunde zu richten.
Vielfach behauptet starrer, der Bildung feindlicher Fanatismus die Herrschaft.
Doch scheint unter den Wohlhabenden hie und da ein dem entgegengesetztes Streben
erwacht zu sein, mir wandern Leute aus diesen Kreisen viel weniger zu uns aus,
als aus den unbemittelten und ungebildeten. Nach dem Journale des Ministeriums
der Volksaufklärung gab es 1878 in den Gymnasien und Progymnasien des russi¬
schen Reiches 5012 jüdische Schüler. Das günstigste Verhältniß zwischen solchen
und christlichen wiesen nicht die an Deutschland grenzenden Bezirke, sondern zuoberst
Odessa, dann Wilna und zuletzt Warschau auf, wo die Stadt gleichen Namens bei
einer Gesammteinwohnerzahl von etwa 320 000 nicht weniger als 110000 Juden hat.
Diese polnischen oder westrussischen Juden sind, wie bemerkt, gleich den weiter
östlich wohnenden durchgehends Aschkenasim und sprechen unter sich das sogenannte
Judendeutsch, einen Dialekt, der im Wesentlichen ein Gemisch aus verdorbenen hoch¬
deutschen und hebräischen Elementen ist. Beim Schreiben von Briefen und andern
Aufzeichnungen in diesem Idiome bedient man sich der hebräischen Charaktere, in
denen auch ein großer Theil der volkstümlichen Schriften, sowie die in den Syna¬
gogen hie und da gebräuchlichen Gebetbücher gedruckt sind. Im Judendeutsch, das
auch im Posenschen und andern östlichen Gegenden Deutschlands, sowie in Galizien
und Ungarn von der niederen Klasse der semitischen Bevölkerung durchgehends und
theilweise selbst von den Wohlhabenden gesprochen wird, unterscheidet man vier
Hauptelemente: 1) das Hebräische, das besonders für Gegenstände der Religion und
der von ihr vorgeschriebenen Gebräuche sowie für Begriffe, welche aus dem Talmud
oder der Kabbala stammen, dann zur Bezeichnung einiger Dinge des täglichen
Lebens, die man absichtlich nicht deutsch benannte, gebräuchlich ist; 2) Zusammen¬
setzungen aus dein Deutschen und Hebräischen, wie „matzil sein" (erretten), „dar-
schcmen" (predigen), „chendig" (anmuthig), „Schabbeslicht", „Habdalabüchse" (Gewürz¬
büchse) und die zu Wörtern gewordenen Abbreviaturen „Ra-T" (Reichsthaler),
„Pa-G" (preußischer Groschen), sowie etliche andere; 3) ungebräuchliches oder fehler¬
haftes Deutsch, z. B. „lernen" (Talmud studiren) „Pausen", „Austern", „Mensch"
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