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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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der Held eines der ältesten deutschen Ritterromane, des "Grafen Rudolf", ein
Graf von Flandern ist! Doch wir wollen dem Verfasser nicht vorgreifen, auch
nicht in denselben Fehler verfallen wie ein anderer Beurtheiler seines Buches.*)

Aus der "lateinischen Literatur", welche nicht allein in den Klöstern, son¬
dern auch bei Hofe"") bis tief hinein in das Zeitalter der Stcmffer sich des
höchsten Ansehens erfreute, wird uns Rudlieb, der älteste Ritterroman, Otto
von Freising, der bedeutendste Historiker der Zeit, die internationale Vaganten¬
poesie und ihr vornehmster deutscher Vertreter, der Erzpoet, durch eingehende,
liebevolle Behandlung nahe gebracht. Neben den genialen, fröhlichste Kneip¬
stimmung athmenden Trinkliedern hat der Archipoeta, ein Günstling des kaiser¬
lichen Kanzlers Reinald von Dassel, der Stauffischen Politik Friedrichs I. in
prächtigen lateinischen Versen gehuldigt. Noch ein anderes dichterisches Abbild
der kaiserlichen und nationalen Herrlichkeit entrollt sich uns in dein merkwür¬
digen Osterspiel vom Antichrist.

Die zweite Unterabtheilung fuhrt "Frau Welt" ein mit einer bekannten, auch
sonst nachweisbaren Anekdote, die in der Erzählung Konrads von Würzburg
an den fränkischen Ritter und Dichter Wirre von Gräfenberg geknüpft ist --
damit bricht die erste Lieferung ab.

Selbstverständlich kann man auf das Bruchstück, das etwa den achten Theil
des Buches ausmachen soll, noch kein Urtheil über das ganze Werk gründen.
Soviel darf aber nach dieser Probe vermuthet werden, daß die Gebildeten un¬
serer Nation aus demselben reiche Belehrung, vielfältige Anregung und edelsten
Genuß schöpfen werden.

Auf die äußere Form der Darstellung einzugehen, die oft von hinreißender
Schönheit und packender Gewalt ist, mußten wir uns versagen. Nur einen




*) Wir meinen den Recensenten im "Literarischen Centralblatt", der die nicht streng
in chronologischer Folge sich bewegende Darstellung tadelt, ohne auch nur mit einem Worte
die Vorzüge sachlicher Gruppirung hervorzuheben, welche jenen unbedeutenden Mangel bei
weitem überwiegen.
**) Der Recensent des "Centralblattes" schiebt Scherer die Behauptung unter, im
10. Jahrhundert sei die lateinische Poesie noch von den Rittern gepflegt worden, im II.
auf die Geistlichen übergegangen. Dieser freilich überkühne Gedanke ist aber nirgends bei
Scherer zu lesen, sondern er ist nur eine Ausgeburt der erhitzten Recensenten-Phantasie.
Ob etwa der unschuldige Satz (S. 74).: "War der Rudlieb noch aus ein ritterliches Publi¬
kum berechnet, so läßt sich dies von der Vagantenlyrik nicht mehr behaupten", eine so leicht¬
fertige Interpretation gefunden hat? Und hier gleich noch eine Frage an den Herren Re¬
censenten. Wie erklärt er sich bei seiner Auffassung der bekannten Stelle des 29. Cav. von
Eginhards Vieh, of-roli, jene frühere im 26. Cap., wo es ausdrücklich von Karl heißt:
tswxts,bg,t et seribers -- sea x^rum snevessit Ig,bor xr^exostsrns? Ob nicht doch die Auf¬
fassung Wilhelm Grimms (Deutsche Heldensage, 2. Aufl. S. 27), der sich Scherer anschloß, den
Vorzug verdient? Wir wüßten nicht, was man dann noch gegen die Scherersche Parallele
zwischen Pisistratus und Karl dem Großen einwenden konnte.

der Held eines der ältesten deutschen Ritterromane, des „Grafen Rudolf", ein
Graf von Flandern ist! Doch wir wollen dem Verfasser nicht vorgreifen, auch
nicht in denselben Fehler verfallen wie ein anderer Beurtheiler seines Buches.*)

Aus der „lateinischen Literatur", welche nicht allein in den Klöstern, son¬
dern auch bei Hofe"") bis tief hinein in das Zeitalter der Stcmffer sich des
höchsten Ansehens erfreute, wird uns Rudlieb, der älteste Ritterroman, Otto
von Freising, der bedeutendste Historiker der Zeit, die internationale Vaganten¬
poesie und ihr vornehmster deutscher Vertreter, der Erzpoet, durch eingehende,
liebevolle Behandlung nahe gebracht. Neben den genialen, fröhlichste Kneip¬
stimmung athmenden Trinkliedern hat der Archipoeta, ein Günstling des kaiser¬
lichen Kanzlers Reinald von Dassel, der Stauffischen Politik Friedrichs I. in
prächtigen lateinischen Versen gehuldigt. Noch ein anderes dichterisches Abbild
der kaiserlichen und nationalen Herrlichkeit entrollt sich uns in dein merkwür¬
digen Osterspiel vom Antichrist.

Die zweite Unterabtheilung fuhrt „Frau Welt" ein mit einer bekannten, auch
sonst nachweisbaren Anekdote, die in der Erzählung Konrads von Würzburg
an den fränkischen Ritter und Dichter Wirre von Gräfenberg geknüpft ist —
damit bricht die erste Lieferung ab.

Selbstverständlich kann man auf das Bruchstück, das etwa den achten Theil
des Buches ausmachen soll, noch kein Urtheil über das ganze Werk gründen.
Soviel darf aber nach dieser Probe vermuthet werden, daß die Gebildeten un¬
serer Nation aus demselben reiche Belehrung, vielfältige Anregung und edelsten
Genuß schöpfen werden.

Auf die äußere Form der Darstellung einzugehen, die oft von hinreißender
Schönheit und packender Gewalt ist, mußten wir uns versagen. Nur einen




*) Wir meinen den Recensenten im „Literarischen Centralblatt", der die nicht streng
in chronologischer Folge sich bewegende Darstellung tadelt, ohne auch nur mit einem Worte
die Vorzüge sachlicher Gruppirung hervorzuheben, welche jenen unbedeutenden Mangel bei
weitem überwiegen.
**) Der Recensent des „Centralblattes" schiebt Scherer die Behauptung unter, im
10. Jahrhundert sei die lateinische Poesie noch von den Rittern gepflegt worden, im II.
auf die Geistlichen übergegangen. Dieser freilich überkühne Gedanke ist aber nirgends bei
Scherer zu lesen, sondern er ist nur eine Ausgeburt der erhitzten Recensenten-Phantasie.
Ob etwa der unschuldige Satz (S. 74).: „War der Rudlieb noch aus ein ritterliches Publi¬
kum berechnet, so läßt sich dies von der Vagantenlyrik nicht mehr behaupten", eine so leicht¬
fertige Interpretation gefunden hat? Und hier gleich noch eine Frage an den Herren Re¬
censenten. Wie erklärt er sich bei seiner Auffassung der bekannten Stelle des 29. Cav. von
Eginhards Vieh, of-roli, jene frühere im 26. Cap., wo es ausdrücklich von Karl heißt:
tswxts,bg,t et seribers — sea x^rum snevessit Ig,bor xr^exostsrns? Ob nicht doch die Auf¬
fassung Wilhelm Grimms (Deutsche Heldensage, 2. Aufl. S. 27), der sich Scherer anschloß, den
Vorzug verdient? Wir wüßten nicht, was man dann noch gegen die Scherersche Parallele
zwischen Pisistratus und Karl dem Großen einwenden konnte.
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[0566] der Held eines der ältesten deutschen Ritterromane, des „Grafen Rudolf", ein Graf von Flandern ist! Doch wir wollen dem Verfasser nicht vorgreifen, auch nicht in denselben Fehler verfallen wie ein anderer Beurtheiler seines Buches.*) Aus der „lateinischen Literatur", welche nicht allein in den Klöstern, son¬ dern auch bei Hofe"") bis tief hinein in das Zeitalter der Stcmffer sich des höchsten Ansehens erfreute, wird uns Rudlieb, der älteste Ritterroman, Otto von Freising, der bedeutendste Historiker der Zeit, die internationale Vaganten¬ poesie und ihr vornehmster deutscher Vertreter, der Erzpoet, durch eingehende, liebevolle Behandlung nahe gebracht. Neben den genialen, fröhlichste Kneip¬ stimmung athmenden Trinkliedern hat der Archipoeta, ein Günstling des kaiser¬ lichen Kanzlers Reinald von Dassel, der Stauffischen Politik Friedrichs I. in prächtigen lateinischen Versen gehuldigt. Noch ein anderes dichterisches Abbild der kaiserlichen und nationalen Herrlichkeit entrollt sich uns in dein merkwür¬ digen Osterspiel vom Antichrist. Die zweite Unterabtheilung fuhrt „Frau Welt" ein mit einer bekannten, auch sonst nachweisbaren Anekdote, die in der Erzählung Konrads von Würzburg an den fränkischen Ritter und Dichter Wirre von Gräfenberg geknüpft ist — damit bricht die erste Lieferung ab. Selbstverständlich kann man auf das Bruchstück, das etwa den achten Theil des Buches ausmachen soll, noch kein Urtheil über das ganze Werk gründen. Soviel darf aber nach dieser Probe vermuthet werden, daß die Gebildeten un¬ serer Nation aus demselben reiche Belehrung, vielfältige Anregung und edelsten Genuß schöpfen werden. Auf die äußere Form der Darstellung einzugehen, die oft von hinreißender Schönheit und packender Gewalt ist, mußten wir uns versagen. Nur einen *) Wir meinen den Recensenten im „Literarischen Centralblatt", der die nicht streng in chronologischer Folge sich bewegende Darstellung tadelt, ohne auch nur mit einem Worte die Vorzüge sachlicher Gruppirung hervorzuheben, welche jenen unbedeutenden Mangel bei weitem überwiegen. **) Der Recensent des „Centralblattes" schiebt Scherer die Behauptung unter, im 10. Jahrhundert sei die lateinische Poesie noch von den Rittern gepflegt worden, im II. auf die Geistlichen übergegangen. Dieser freilich überkühne Gedanke ist aber nirgends bei Scherer zu lesen, sondern er ist nur eine Ausgeburt der erhitzten Recensenten-Phantasie. Ob etwa der unschuldige Satz (S. 74).: „War der Rudlieb noch aus ein ritterliches Publi¬ kum berechnet, so läßt sich dies von der Vagantenlyrik nicht mehr behaupten", eine so leicht¬ fertige Interpretation gefunden hat? Und hier gleich noch eine Frage an den Herren Re¬ censenten. Wie erklärt er sich bei seiner Auffassung der bekannten Stelle des 29. Cav. von Eginhards Vieh, of-roli, jene frühere im 26. Cap., wo es ausdrücklich von Karl heißt: tswxts,bg,t et seribers — sea x^rum snevessit Ig,bor xr^exostsrns? Ob nicht doch die Auf¬ fassung Wilhelm Grimms (Deutsche Heldensage, 2. Aufl. S. 27), der sich Scherer anschloß, den Vorzug verdient? Wir wüßten nicht, was man dann noch gegen die Scherersche Parallele zwischen Pisistratus und Karl dem Großen einwenden konnte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/566>, abgerufen am 22.07.2024.