Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Zauber- und Segensspruche. Schade, daß es für die meisten der zuletzt er¬
wähnten poetischen Gattungen an so alten Beispielen fehlt, wie für die medi¬
cinischen Zaubersprüche das unscheinbare Vorsetzblatt einer Handschrift des
Domcapitels zu Merseburg bewahrt hat.

Zu Beginn des zweiten Capitels "Gothen und Franken" entwickelt Scherer
seine Theorie der sechshundertjährigen Epochen. Daraus ergiebt sich eine erste
Blüthezeit der Deutschen Literatur vor den von Vilmar und der ganzen ihm
nachfolgenden Schaar von Literarhistorikern mit übertriebenen patriotischem
Eifer als specifischdeutsche Eigenthümlichkeit gepriesenen beiden Höhepunkten
auf der Wende das 12. und 13. und im 18. Jahrhundert. Die ungefähre
Datirung der ersten literarischen Blüthe, die gleichweit voll der zweiten absteht,
wie diese ihrerseits von der dritten, wird durch eine Reihe historischer Momente
bestimmt. Einmal durch den geschichtlichen Stoff, den die Heldensage in sich
aufnahm; ferner durch die Zeugnisse, welche für den deutschen Heldengesang mit
dem sechsten Jahrhundert anheben; endlich durch die Analogie der angelsächsi¬
schen Dichtung von Beovulf.

Beherzigenswerthe allgemeine Bemerkungen über die im Dienste der Schön¬
heit stehenden und durch denselben sittlich geläuterten Zeiten, die bei uns leider
stets nur von so kurzer Dauer und wenig nachhaltender Wirkung gewesen sind,
leiten über zur Behandlung des Heldensanges. An der Hand der Forschungen
Landmanns, W. Grimms, Müllenhoffs u. a. wird zunächst gezeigt, wie durch die
gewaltigen Erschütterungen der Völkerwanderung die Vorbedingungen für die
Ausbildung der nationalen Epik geschaffen wurden. Wir können noch ziemlich
deutlich beobachten, wie durch die aufgeregte Phantasie des mächtig ergriffenen
Volkes bis zur Halbgöttlichkeit gesteigerte Menschen sich die Hände reichen mit
den ihrer Göttlichkeit entkleideten Göttern. Aus diesen beiden Elementen setzt
sich die germanische Heroenwelt zusammen.

Höchst beachtenswerth als Stütze der vorhin erwähnten Schererschen Hypo¬
these ist der S. 26 beobachtete Unterschied in Charakteren und Motiven der
älteren und jüngeren Heldensage. Zu den abstoßenden und grausamen Typen
einer sich deutlich ablösenden älteren Schicht gesellt erst jüngere Sagenbildung
milde, edle Gestalten. Dort die habsüchtigen, grausamen Herrschergestalten
Ermanarich und Attila, hier der gerechte, großmüthige Dietrich von Bern, dort
die finsteren Kämpfer Wittich und Heime, hier der alte treue Dienstmann Hilde¬
brand, u. s. f.

Da Sage und Dichtung nur ein Spiegel des wirklichen Lebens sind, sucht
Scherer auch aus der Geschichte jener Tage das Walten milderer Gesinnung
nachzuweisen. Freilich wird es an Ausnahmen nicht gefehlt haben. Zu diesen
möchten auch die Thaten der fränkischen Königinnen Brunihilde und Fredegunde


Zauber- und Segensspruche. Schade, daß es für die meisten der zuletzt er¬
wähnten poetischen Gattungen an so alten Beispielen fehlt, wie für die medi¬
cinischen Zaubersprüche das unscheinbare Vorsetzblatt einer Handschrift des
Domcapitels zu Merseburg bewahrt hat.

Zu Beginn des zweiten Capitels „Gothen und Franken" entwickelt Scherer
seine Theorie der sechshundertjährigen Epochen. Daraus ergiebt sich eine erste
Blüthezeit der Deutschen Literatur vor den von Vilmar und der ganzen ihm
nachfolgenden Schaar von Literarhistorikern mit übertriebenen patriotischem
Eifer als specifischdeutsche Eigenthümlichkeit gepriesenen beiden Höhepunkten
auf der Wende das 12. und 13. und im 18. Jahrhundert. Die ungefähre
Datirung der ersten literarischen Blüthe, die gleichweit voll der zweiten absteht,
wie diese ihrerseits von der dritten, wird durch eine Reihe historischer Momente
bestimmt. Einmal durch den geschichtlichen Stoff, den die Heldensage in sich
aufnahm; ferner durch die Zeugnisse, welche für den deutschen Heldengesang mit
dem sechsten Jahrhundert anheben; endlich durch die Analogie der angelsächsi¬
schen Dichtung von Beovulf.

Beherzigenswerthe allgemeine Bemerkungen über die im Dienste der Schön¬
heit stehenden und durch denselben sittlich geläuterten Zeiten, die bei uns leider
stets nur von so kurzer Dauer und wenig nachhaltender Wirkung gewesen sind,
leiten über zur Behandlung des Heldensanges. An der Hand der Forschungen
Landmanns, W. Grimms, Müllenhoffs u. a. wird zunächst gezeigt, wie durch die
gewaltigen Erschütterungen der Völkerwanderung die Vorbedingungen für die
Ausbildung der nationalen Epik geschaffen wurden. Wir können noch ziemlich
deutlich beobachten, wie durch die aufgeregte Phantasie des mächtig ergriffenen
Volkes bis zur Halbgöttlichkeit gesteigerte Menschen sich die Hände reichen mit
den ihrer Göttlichkeit entkleideten Göttern. Aus diesen beiden Elementen setzt
sich die germanische Heroenwelt zusammen.

Höchst beachtenswerth als Stütze der vorhin erwähnten Schererschen Hypo¬
these ist der S. 26 beobachtete Unterschied in Charakteren und Motiven der
älteren und jüngeren Heldensage. Zu den abstoßenden und grausamen Typen
einer sich deutlich ablösenden älteren Schicht gesellt erst jüngere Sagenbildung
milde, edle Gestalten. Dort die habsüchtigen, grausamen Herrschergestalten
Ermanarich und Attila, hier der gerechte, großmüthige Dietrich von Bern, dort
die finsteren Kämpfer Wittich und Heime, hier der alte treue Dienstmann Hilde¬
brand, u. s. f.

Da Sage und Dichtung nur ein Spiegel des wirklichen Lebens sind, sucht
Scherer auch aus der Geschichte jener Tage das Walten milderer Gesinnung
nachzuweisen. Freilich wird es an Ausnahmen nicht gefehlt haben. Zu diesen
möchten auch die Thaten der fränkischen Königinnen Brunihilde und Fredegunde


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0563" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/147068"/>
          <p xml:id="ID_1611" prev="#ID_1610"> Zauber- und Segensspruche. Schade, daß es für die meisten der zuletzt er¬<lb/>
wähnten poetischen Gattungen an so alten Beispielen fehlt, wie für die medi¬<lb/>
cinischen Zaubersprüche das unscheinbare Vorsetzblatt einer Handschrift des<lb/>
Domcapitels zu Merseburg bewahrt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1612"> Zu Beginn des zweiten Capitels &#x201E;Gothen und Franken" entwickelt Scherer<lb/>
seine Theorie der sechshundertjährigen Epochen. Daraus ergiebt sich eine erste<lb/>
Blüthezeit der Deutschen Literatur vor den von Vilmar und der ganzen ihm<lb/>
nachfolgenden Schaar von Literarhistorikern mit übertriebenen patriotischem<lb/>
Eifer als specifischdeutsche Eigenthümlichkeit gepriesenen beiden Höhepunkten<lb/>
auf der Wende das 12. und 13. und im 18. Jahrhundert. Die ungefähre<lb/>
Datirung der ersten literarischen Blüthe, die gleichweit voll der zweiten absteht,<lb/>
wie diese ihrerseits von der dritten, wird durch eine Reihe historischer Momente<lb/>
bestimmt. Einmal durch den geschichtlichen Stoff, den die Heldensage in sich<lb/>
aufnahm; ferner durch die Zeugnisse, welche für den deutschen Heldengesang mit<lb/>
dem sechsten Jahrhundert anheben; endlich durch die Analogie der angelsächsi¬<lb/>
schen Dichtung von Beovulf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1613"> Beherzigenswerthe allgemeine Bemerkungen über die im Dienste der Schön¬<lb/>
heit stehenden und durch denselben sittlich geläuterten Zeiten, die bei uns leider<lb/>
stets nur von so kurzer Dauer und wenig nachhaltender Wirkung gewesen sind,<lb/>
leiten über zur Behandlung des Heldensanges. An der Hand der Forschungen<lb/>
Landmanns, W. Grimms, Müllenhoffs u. a. wird zunächst gezeigt, wie durch die<lb/>
gewaltigen Erschütterungen der Völkerwanderung die Vorbedingungen für die<lb/>
Ausbildung der nationalen Epik geschaffen wurden. Wir können noch ziemlich<lb/>
deutlich beobachten, wie durch die aufgeregte Phantasie des mächtig ergriffenen<lb/>
Volkes bis zur Halbgöttlichkeit gesteigerte Menschen sich die Hände reichen mit<lb/>
den ihrer Göttlichkeit entkleideten Göttern. Aus diesen beiden Elementen setzt<lb/>
sich die germanische Heroenwelt zusammen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1614"> Höchst beachtenswerth als Stütze der vorhin erwähnten Schererschen Hypo¬<lb/>
these ist der S. 26 beobachtete Unterschied in Charakteren und Motiven der<lb/>
älteren und jüngeren Heldensage. Zu den abstoßenden und grausamen Typen<lb/>
einer sich deutlich ablösenden älteren Schicht gesellt erst jüngere Sagenbildung<lb/>
milde, edle Gestalten. Dort die habsüchtigen, grausamen Herrschergestalten<lb/>
Ermanarich und Attila, hier der gerechte, großmüthige Dietrich von Bern, dort<lb/>
die finsteren Kämpfer Wittich und Heime, hier der alte treue Dienstmann Hilde¬<lb/>
brand, u. s. f.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1615" next="#ID_1616"> Da Sage und Dichtung nur ein Spiegel des wirklichen Lebens sind, sucht<lb/>
Scherer auch aus der Geschichte jener Tage das Walten milderer Gesinnung<lb/>
nachzuweisen. Freilich wird es an Ausnahmen nicht gefehlt haben. Zu diesen<lb/>
möchten auch die Thaten der fränkischen Königinnen Brunihilde und Fredegunde</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0563] Zauber- und Segensspruche. Schade, daß es für die meisten der zuletzt er¬ wähnten poetischen Gattungen an so alten Beispielen fehlt, wie für die medi¬ cinischen Zaubersprüche das unscheinbare Vorsetzblatt einer Handschrift des Domcapitels zu Merseburg bewahrt hat. Zu Beginn des zweiten Capitels „Gothen und Franken" entwickelt Scherer seine Theorie der sechshundertjährigen Epochen. Daraus ergiebt sich eine erste Blüthezeit der Deutschen Literatur vor den von Vilmar und der ganzen ihm nachfolgenden Schaar von Literarhistorikern mit übertriebenen patriotischem Eifer als specifischdeutsche Eigenthümlichkeit gepriesenen beiden Höhepunkten auf der Wende das 12. und 13. und im 18. Jahrhundert. Die ungefähre Datirung der ersten literarischen Blüthe, die gleichweit voll der zweiten absteht, wie diese ihrerseits von der dritten, wird durch eine Reihe historischer Momente bestimmt. Einmal durch den geschichtlichen Stoff, den die Heldensage in sich aufnahm; ferner durch die Zeugnisse, welche für den deutschen Heldengesang mit dem sechsten Jahrhundert anheben; endlich durch die Analogie der angelsächsi¬ schen Dichtung von Beovulf. Beherzigenswerthe allgemeine Bemerkungen über die im Dienste der Schön¬ heit stehenden und durch denselben sittlich geläuterten Zeiten, die bei uns leider stets nur von so kurzer Dauer und wenig nachhaltender Wirkung gewesen sind, leiten über zur Behandlung des Heldensanges. An der Hand der Forschungen Landmanns, W. Grimms, Müllenhoffs u. a. wird zunächst gezeigt, wie durch die gewaltigen Erschütterungen der Völkerwanderung die Vorbedingungen für die Ausbildung der nationalen Epik geschaffen wurden. Wir können noch ziemlich deutlich beobachten, wie durch die aufgeregte Phantasie des mächtig ergriffenen Volkes bis zur Halbgöttlichkeit gesteigerte Menschen sich die Hände reichen mit den ihrer Göttlichkeit entkleideten Göttern. Aus diesen beiden Elementen setzt sich die germanische Heroenwelt zusammen. Höchst beachtenswerth als Stütze der vorhin erwähnten Schererschen Hypo¬ these ist der S. 26 beobachtete Unterschied in Charakteren und Motiven der älteren und jüngeren Heldensage. Zu den abstoßenden und grausamen Typen einer sich deutlich ablösenden älteren Schicht gesellt erst jüngere Sagenbildung milde, edle Gestalten. Dort die habsüchtigen, grausamen Herrschergestalten Ermanarich und Attila, hier der gerechte, großmüthige Dietrich von Bern, dort die finsteren Kämpfer Wittich und Heime, hier der alte treue Dienstmann Hilde¬ brand, u. s. f. Da Sage und Dichtung nur ein Spiegel des wirklichen Lebens sind, sucht Scherer auch aus der Geschichte jener Tage das Walten milderer Gesinnung nachzuweisen. Freilich wird es an Ausnahmen nicht gefehlt haben. Zu diesen möchten auch die Thaten der fränkischen Königinnen Brunihilde und Fredegunde

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/563
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/563>, abgerufen am 22.07.2024.