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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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beschränkt; überhaupt kennt er nicht nur eine materialistische Nachtansicht, obwohl
allerdings die "ernstesten Materialisten und Socialdemokraten" ihm das Beispiel
der consequentesten, jedes Strahles und Abglanzes aus der Tagesansicht entbehren¬
den Nachtansicht darbieten. Den Begriff der letzteren, sagen wir, erstreckt Fechner
auch über idealistische Ansichten, zunächst auf die von unerkennbaren so¬
genannten "Dingen an sich", welche man für das in Wahrheit Seiende hält,
während ihnen gegenüber jene lichte, farbenreiche, tönende Welt des Innern nur
eine Scheinwelt sein würde. Auch diese "Dinge an sich" repräsentiren eine
dunkle Nacht; in diese Nacht setzt eine solche Ansicht das wahrhaft Seiende:
der helle Tag ist ihr ein bloßer Schein. Nachtansicht ist hiernach auch dies,
die Gottheit sür ein uns unerkennbares, von der Welt oder doch von unsrer
Bewußtseinswelt grundverschiedenes Wesen zu halten, das wir zwar annehmen
müssen, gleich jenen Dingen an sich, an welchem wir aber ebenso, wie an diesen,
eigentlich nichts haben oder wiederum nur eine dunkle Nacht haben. Die Nacht
wird nur noch etwas dunkler, wenn ein kühnerer Schritt auch diesen dunkeln
Gott beseitigt und zu völligem Atheismus überführt. Endlich kommt der Pessi¬
mismus hinzu, welcher nicht nur in Dunkel, Stille, Farblosigkeit, Bewußtlosigkeit,
Unerkennbarkeit des Daseienden, sondern zugleich, oder auch ohne diese Momente
hinzuzunehmen, in der Werthlosigkeit, Schlechtigkeit, ja Bösartigkeit des Daseins
und des Urquells alles Daseins die Berechtigung finden will für die Zeichnung
eines Weltbildes, dessen Tagseite nnr Trug, dessen wahrheitstreue Seite das
düsterste Nachtbild ist. Nicht überall, ja selten überall, sind alle zusammenge¬
hörenden Züge der Nachtansicht beisammen; glückliche Inconsequenzen bewahren
die Meisten vor solcher furchtbaren Gedankenstrenge. Die vollendete Tagesansicht
findet sich ebenso wenig; aber wir suchen sie, wir wollen sie, vielmehr sollen
sie wollen und suchen: Fechners "Tagesansicht" ist ein Versuch, in allen den
erwähnten Beziehungen der Nachtansicht zu entgehe", die Züge der Tagesansicht
consequent in ein System zu vereinigen, und wissenschaftlich, so weit möglich,
die Wahrheit dieses Systems zu begründe", zum mindesten dem Glauben
daran Wege zu bahnen. "Streng genommen ist Alles Glaubenssache, was nicht
unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Doch kann ein Glaube
besser gestützt und selbst besser sein, als der andere. Der beste Glaube endlich
ist der, der am widerspruchslosesten in sich, mit allem Wissen und allen unseren
praktischen Interessen besteht, und als solcher wird er auch die Zukunft für
sich haben" (S. 18).

Wenn wir dem Inhalte solches Glaubens, der sich zur "Tagesansicht"
Fechners entwickelt und in ihr zusammengefaßt hat, etwas näher treten, so
kommen uns zunächst die von ihm selbst so genannten "Grundpnnkte" dieser Ansicht
entgegen. "Als wesentliche, sich wechselseits fordernde, bedingende und haltende


beschränkt; überhaupt kennt er nicht nur eine materialistische Nachtansicht, obwohl
allerdings die „ernstesten Materialisten und Socialdemokraten" ihm das Beispiel
der consequentesten, jedes Strahles und Abglanzes aus der Tagesansicht entbehren¬
den Nachtansicht darbieten. Den Begriff der letzteren, sagen wir, erstreckt Fechner
auch über idealistische Ansichten, zunächst auf die von unerkennbaren so¬
genannten „Dingen an sich", welche man für das in Wahrheit Seiende hält,
während ihnen gegenüber jene lichte, farbenreiche, tönende Welt des Innern nur
eine Scheinwelt sein würde. Auch diese „Dinge an sich" repräsentiren eine
dunkle Nacht; in diese Nacht setzt eine solche Ansicht das wahrhaft Seiende:
der helle Tag ist ihr ein bloßer Schein. Nachtansicht ist hiernach auch dies,
die Gottheit sür ein uns unerkennbares, von der Welt oder doch von unsrer
Bewußtseinswelt grundverschiedenes Wesen zu halten, das wir zwar annehmen
müssen, gleich jenen Dingen an sich, an welchem wir aber ebenso, wie an diesen,
eigentlich nichts haben oder wiederum nur eine dunkle Nacht haben. Die Nacht
wird nur noch etwas dunkler, wenn ein kühnerer Schritt auch diesen dunkeln
Gott beseitigt und zu völligem Atheismus überführt. Endlich kommt der Pessi¬
mismus hinzu, welcher nicht nur in Dunkel, Stille, Farblosigkeit, Bewußtlosigkeit,
Unerkennbarkeit des Daseienden, sondern zugleich, oder auch ohne diese Momente
hinzuzunehmen, in der Werthlosigkeit, Schlechtigkeit, ja Bösartigkeit des Daseins
und des Urquells alles Daseins die Berechtigung finden will für die Zeichnung
eines Weltbildes, dessen Tagseite nnr Trug, dessen wahrheitstreue Seite das
düsterste Nachtbild ist. Nicht überall, ja selten überall, sind alle zusammenge¬
hörenden Züge der Nachtansicht beisammen; glückliche Inconsequenzen bewahren
die Meisten vor solcher furchtbaren Gedankenstrenge. Die vollendete Tagesansicht
findet sich ebenso wenig; aber wir suchen sie, wir wollen sie, vielmehr sollen
sie wollen und suchen: Fechners „Tagesansicht" ist ein Versuch, in allen den
erwähnten Beziehungen der Nachtansicht zu entgehe«, die Züge der Tagesansicht
consequent in ein System zu vereinigen, und wissenschaftlich, so weit möglich,
die Wahrheit dieses Systems zu begründe», zum mindesten dem Glauben
daran Wege zu bahnen. „Streng genommen ist Alles Glaubenssache, was nicht
unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Doch kann ein Glaube
besser gestützt und selbst besser sein, als der andere. Der beste Glaube endlich
ist der, der am widerspruchslosesten in sich, mit allem Wissen und allen unseren
praktischen Interessen besteht, und als solcher wird er auch die Zukunft für
sich haben" (S. 18).

Wenn wir dem Inhalte solches Glaubens, der sich zur „Tagesansicht"
Fechners entwickelt und in ihr zusammengefaßt hat, etwas näher treten, so
kommen uns zunächst die von ihm selbst so genannten „Grundpnnkte" dieser Ansicht
entgegen. „Als wesentliche, sich wechselseits fordernde, bedingende und haltende


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[0539] beschränkt; überhaupt kennt er nicht nur eine materialistische Nachtansicht, obwohl allerdings die „ernstesten Materialisten und Socialdemokraten" ihm das Beispiel der consequentesten, jedes Strahles und Abglanzes aus der Tagesansicht entbehren¬ den Nachtansicht darbieten. Den Begriff der letzteren, sagen wir, erstreckt Fechner auch über idealistische Ansichten, zunächst auf die von unerkennbaren so¬ genannten „Dingen an sich", welche man für das in Wahrheit Seiende hält, während ihnen gegenüber jene lichte, farbenreiche, tönende Welt des Innern nur eine Scheinwelt sein würde. Auch diese „Dinge an sich" repräsentiren eine dunkle Nacht; in diese Nacht setzt eine solche Ansicht das wahrhaft Seiende: der helle Tag ist ihr ein bloßer Schein. Nachtansicht ist hiernach auch dies, die Gottheit sür ein uns unerkennbares, von der Welt oder doch von unsrer Bewußtseinswelt grundverschiedenes Wesen zu halten, das wir zwar annehmen müssen, gleich jenen Dingen an sich, an welchem wir aber ebenso, wie an diesen, eigentlich nichts haben oder wiederum nur eine dunkle Nacht haben. Die Nacht wird nur noch etwas dunkler, wenn ein kühnerer Schritt auch diesen dunkeln Gott beseitigt und zu völligem Atheismus überführt. Endlich kommt der Pessi¬ mismus hinzu, welcher nicht nur in Dunkel, Stille, Farblosigkeit, Bewußtlosigkeit, Unerkennbarkeit des Daseienden, sondern zugleich, oder auch ohne diese Momente hinzuzunehmen, in der Werthlosigkeit, Schlechtigkeit, ja Bösartigkeit des Daseins und des Urquells alles Daseins die Berechtigung finden will für die Zeichnung eines Weltbildes, dessen Tagseite nnr Trug, dessen wahrheitstreue Seite das düsterste Nachtbild ist. Nicht überall, ja selten überall, sind alle zusammenge¬ hörenden Züge der Nachtansicht beisammen; glückliche Inconsequenzen bewahren die Meisten vor solcher furchtbaren Gedankenstrenge. Die vollendete Tagesansicht findet sich ebenso wenig; aber wir suchen sie, wir wollen sie, vielmehr sollen sie wollen und suchen: Fechners „Tagesansicht" ist ein Versuch, in allen den erwähnten Beziehungen der Nachtansicht zu entgehe«, die Züge der Tagesansicht consequent in ein System zu vereinigen, und wissenschaftlich, so weit möglich, die Wahrheit dieses Systems zu begründe», zum mindesten dem Glauben daran Wege zu bahnen. „Streng genommen ist Alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Doch kann ein Glaube besser gestützt und selbst besser sein, als der andere. Der beste Glaube endlich ist der, der am widerspruchslosesten in sich, mit allem Wissen und allen unseren praktischen Interessen besteht, und als solcher wird er auch die Zukunft für sich haben" (S. 18). Wenn wir dem Inhalte solches Glaubens, der sich zur „Tagesansicht" Fechners entwickelt und in ihr zusammengefaßt hat, etwas näher treten, so kommen uns zunächst die von ihm selbst so genannten „Grundpnnkte" dieser Ansicht entgegen. „Als wesentliche, sich wechselseits fordernde, bedingende und haltende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/539>, abgerufen am 22.07.2024.