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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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und wieweit es Object unseres Bewußtseins ist. Alle äußerlichen Vermitte¬
lungen dieses Wissens, die wir für thatsächlich halten, z. B. Sinnesorgane,
existirende Körperwelt, sind gleichfalls nur sofern von uus gewußt, als wir sie
selbst wieder zu Bewußtseinsobjeeten gemacht haben, und als wir gewisse,
wiederum lediglich in uns vorgehende Gedankenoperationen vornahmen, dnrch
die wir auf jene Vermittelungen zu schließen uns genöthigt glaubten. Es giebt
im Grunde nichts Einfacheres und Selbstverständlicheres als den Satz: "Alles,
was wir wissen, ist Gegenstand unseres Bewußtseins." Die große, schwere
Fundamentalfrage aber, die hieraus entsteht, ist das wahre Kreuz der Philo¬
sophie, über das jene übliche Grnndvvraussetzung des naturwissenschaftlichen
Verfahrens so leicht hinweg-, oder vielmehr an das sie gar nicht herankam. Es
ist dies die Frage, ob wir denn überhaupt zur Kenntniß einer Außenwelt,
vollends eiuer körperlichen, zu gelangen im Staude seien.

Merkwürdig, wie sich an diesem Grundpunkte alles wissenschaftlichen Denkens
zeigt, daß Naturwissenschaft und Philosophie ihre sonst zur Schau getragene
gegensätzliche Stellung in Wahrheit gar nicht einnehmen, sondern die umgekehrte.
Nicht die Philosophie geht vou a xriori feststehenden Voraussetzungen aus,
sondern die Naturwissenschaft; nicht die Naturwissenschaft verfährt empirisch, steht
auf dem Grunde der Erfahrung, sondern die Philosophie. Unmittelbare Thatsache
der Erfahrung ist ja offenbar nur dies, daß ich, der gerade hier sich im Selbst¬
bewußtsein erfassende Jemand, mit diesem Selbstbewußtsein zugleich gewisse
Objecte in der gleichen Vorstellungs- und Gedankeuform in meinem Besitze habe.
Alles Weitere ist nicht mehr erfahren, sondern erschlossen, hinzugedacht. Wenn
uun aber die frühere Naturwissenschaft nicht von: Selbstbewnßsein, sondern von
der Annahme existirender raumersülleuder Körper ausging, so setzte sie ebeu
etwas höchstens nur durch Denke" erschließbares a xriorl als feststehend voraus,
d. h. sie war rationaler, apriorischer Dogmatismus.

So erklärt es sich, daß die Naturwissenschaft nur durch die Physiologie
der Sinnesorgane darauf geführt werden konnte, einzusehen und zuzugestehen,
was seit Kant in allen philosophischen Systemen den uncmgezweifelten Ausgangs¬
punkt der weiteren Untersuchung bildete, ja was durch Cartesius der schöpferische
Grundgedanke der neueren Philosophie überhaupt geworden war, um von den
verwandten Lehren der antiken Philosophie nicht zu sprechen. Die bescheidenste
Form, in die sich diese Grundwahrheit kleiden läßt, dürfte etwa diese sein: Er¬
fahrungsmäßig gegeben sind uns nur unsre eignen Bewußtseiuszu-
stände. Die Sinnesphysiologie konnte und mußte zur Anerkennung dieses
Satzes leiten, indem sie dem gedankenlosen Vorurtheile, als seien unsere Er¬
fahrungsgegenstände die Dinge der Außenwelt selbst, durch Untersuchung der
Wege, auf welchen die Außendinge sich uns mitzutheilen scheinen, ja auf denen


und wieweit es Object unseres Bewußtseins ist. Alle äußerlichen Vermitte¬
lungen dieses Wissens, die wir für thatsächlich halten, z. B. Sinnesorgane,
existirende Körperwelt, sind gleichfalls nur sofern von uus gewußt, als wir sie
selbst wieder zu Bewußtseinsobjeeten gemacht haben, und als wir gewisse,
wiederum lediglich in uns vorgehende Gedankenoperationen vornahmen, dnrch
die wir auf jene Vermittelungen zu schließen uns genöthigt glaubten. Es giebt
im Grunde nichts Einfacheres und Selbstverständlicheres als den Satz: „Alles,
was wir wissen, ist Gegenstand unseres Bewußtseins." Die große, schwere
Fundamentalfrage aber, die hieraus entsteht, ist das wahre Kreuz der Philo¬
sophie, über das jene übliche Grnndvvraussetzung des naturwissenschaftlichen
Verfahrens so leicht hinweg-, oder vielmehr an das sie gar nicht herankam. Es
ist dies die Frage, ob wir denn überhaupt zur Kenntniß einer Außenwelt,
vollends eiuer körperlichen, zu gelangen im Staude seien.

Merkwürdig, wie sich an diesem Grundpunkte alles wissenschaftlichen Denkens
zeigt, daß Naturwissenschaft und Philosophie ihre sonst zur Schau getragene
gegensätzliche Stellung in Wahrheit gar nicht einnehmen, sondern die umgekehrte.
Nicht die Philosophie geht vou a xriori feststehenden Voraussetzungen aus,
sondern die Naturwissenschaft; nicht die Naturwissenschaft verfährt empirisch, steht
auf dem Grunde der Erfahrung, sondern die Philosophie. Unmittelbare Thatsache
der Erfahrung ist ja offenbar nur dies, daß ich, der gerade hier sich im Selbst¬
bewußtsein erfassende Jemand, mit diesem Selbstbewußtsein zugleich gewisse
Objecte in der gleichen Vorstellungs- und Gedankeuform in meinem Besitze habe.
Alles Weitere ist nicht mehr erfahren, sondern erschlossen, hinzugedacht. Wenn
uun aber die frühere Naturwissenschaft nicht von: Selbstbewnßsein, sondern von
der Annahme existirender raumersülleuder Körper ausging, so setzte sie ebeu
etwas höchstens nur durch Denke» erschließbares a xriorl als feststehend voraus,
d. h. sie war rationaler, apriorischer Dogmatismus.

So erklärt es sich, daß die Naturwissenschaft nur durch die Physiologie
der Sinnesorgane darauf geführt werden konnte, einzusehen und zuzugestehen,
was seit Kant in allen philosophischen Systemen den uncmgezweifelten Ausgangs¬
punkt der weiteren Untersuchung bildete, ja was durch Cartesius der schöpferische
Grundgedanke der neueren Philosophie überhaupt geworden war, um von den
verwandten Lehren der antiken Philosophie nicht zu sprechen. Die bescheidenste
Form, in die sich diese Grundwahrheit kleiden läßt, dürfte etwa diese sein: Er¬
fahrungsmäßig gegeben sind uns nur unsre eignen Bewußtseiuszu-
stände. Die Sinnesphysiologie konnte und mußte zur Anerkennung dieses
Satzes leiten, indem sie dem gedankenlosen Vorurtheile, als seien unsere Er¬
fahrungsgegenstände die Dinge der Außenwelt selbst, durch Untersuchung der
Wege, auf welchen die Außendinge sich uns mitzutheilen scheinen, ja auf denen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/537>, abgerufen am 25.08.2024.