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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Worte charakterisirt und der empfänglichen, wie der entgegenstrebeuden Mitwelt
empfehlen soll: der Name "Tagesansicht".

Der anspruchsvoll scheinende, den Anbruch eines neuen all-erhellenden Lichtes
verkündende Name ist in seiner Entstehung nicht in diesem Sinne gemeint. Er
erklärt sich aus dem Gegensatze. Der sich in der freien Natur am sonnigen
Tage erfreuende, gemüthvolle Denker erinnert sich, daß die moderne Wissenschaft
den leuchtenden Tag zu einem bloßen Scheine herabsetzt, das wahrhaft Seiende
für eine dunkle Nacht erklärt. Er hält seine eigene Weltanschauung, die ihn
in wachsender Entfaltung und Befestigung durch das Leben geleitet, solcher
Nachtansicht gegenüber -- so tritt ihm der Name "Tagesansicht" vor die Seele
als bezeichnend für das, was seine Lehre unterscheidet von jener modernen.
Wir wollen näher zusehen, welche moderne Lehre er meint, und was das nächtige
daran ist, das ihn zum Widerstande und Kampfe aufruft.

Uuter den vielen wichtigen, ja epochemachenden Schritten, welche die Natur-
Wissenschaft der letzten Jahrzehnte gethan, ist wohl keiner bedeutsamer und
folgenreicher gewesen, als der der Annäherung an die Lehre Kants, ja der Ver¬
schmelzung mit dieser Lehre, welcher durch fortschreitende Untersuchungen ans dem
Gebiete der Sinnesfunetionen veranlaßt war. Die Physiologie der Sinnesorgane,
die Optik, die Akustik, sind der Weg, auf dem jede gründliche Nnturforschung unsehl-
bar in die geheimsten Gemächer der sonst so vornehm und überklug abgelehnten
Philosophie hineingeführt wird. Für den an naturwissenschaftliche Methoden ge¬
wöhnten bedarf es einer derartigen Nöthigung, um das zuzugestehen, ja überhaupt
zu verstehen, was dem Philosophen in seiner Weise längst bekannt und geläufig
war, ja selbstverständlich scheinen muß. Die Naturwissenschaft ist von Haus aus von
sinnlicher Wahrnehmung getragen, und wiederum den Hintergrund ihrer Benutzung
dieses Erkenntnißorganes bildet die Voraussetzung, daß es eine außerhalb unseres
leiblichen Organismus im Raume existirende ausgedehnte Körperwelt giebt, von
deren Dasein und Eigenschaften wir durch ebenfalls im Raume existirende, ausge¬
dehnte körperliche Werkzeuge, Sinnesorgane genannt, Kunde erhalten. Der Philo¬
soph dagegen kennt diese Voraussetzung nicht, wie er überhaupt keinerlei Voraus¬
setzung kennt außer der einzigen, daß er die Wahrheit sucht. Ihm ist also von
vornherein alles zweifelhaft, nur die eine Thatsache des Selbstbewußtseins nicht,
die in den Worten sich ausspricht: "Ich will Wahrheit". Der Philosoph
findet also das erste Gewisse in seinem Selbstbewußtsein. Von hier aus
ist es leicht, zu der Entdeckung zu kommen, daß die sogenannten körperlichen
Sinne sinnlos, todt und stumm bleibe", also keineswegs uns Kunde geben von
irgend etwas, solange nicht die "Wir" oder der "Ich", dem sie Kunde geben
sollen, den Inhalt dieser Kunde zu einen: Objecte seines Bewußtseins erhoben
hat. Alles, was wir wissen, wissen wir nur deshalb und soweit, weil


Worte charakterisirt und der empfänglichen, wie der entgegenstrebeuden Mitwelt
empfehlen soll: der Name „Tagesansicht".

Der anspruchsvoll scheinende, den Anbruch eines neuen all-erhellenden Lichtes
verkündende Name ist in seiner Entstehung nicht in diesem Sinne gemeint. Er
erklärt sich aus dem Gegensatze. Der sich in der freien Natur am sonnigen
Tage erfreuende, gemüthvolle Denker erinnert sich, daß die moderne Wissenschaft
den leuchtenden Tag zu einem bloßen Scheine herabsetzt, das wahrhaft Seiende
für eine dunkle Nacht erklärt. Er hält seine eigene Weltanschauung, die ihn
in wachsender Entfaltung und Befestigung durch das Leben geleitet, solcher
Nachtansicht gegenüber — so tritt ihm der Name „Tagesansicht" vor die Seele
als bezeichnend für das, was seine Lehre unterscheidet von jener modernen.
Wir wollen näher zusehen, welche moderne Lehre er meint, und was das nächtige
daran ist, das ihn zum Widerstande und Kampfe aufruft.

Uuter den vielen wichtigen, ja epochemachenden Schritten, welche die Natur-
Wissenschaft der letzten Jahrzehnte gethan, ist wohl keiner bedeutsamer und
folgenreicher gewesen, als der der Annäherung an die Lehre Kants, ja der Ver¬
schmelzung mit dieser Lehre, welcher durch fortschreitende Untersuchungen ans dem
Gebiete der Sinnesfunetionen veranlaßt war. Die Physiologie der Sinnesorgane,
die Optik, die Akustik, sind der Weg, auf dem jede gründliche Nnturforschung unsehl-
bar in die geheimsten Gemächer der sonst so vornehm und überklug abgelehnten
Philosophie hineingeführt wird. Für den an naturwissenschaftliche Methoden ge¬
wöhnten bedarf es einer derartigen Nöthigung, um das zuzugestehen, ja überhaupt
zu verstehen, was dem Philosophen in seiner Weise längst bekannt und geläufig
war, ja selbstverständlich scheinen muß. Die Naturwissenschaft ist von Haus aus von
sinnlicher Wahrnehmung getragen, und wiederum den Hintergrund ihrer Benutzung
dieses Erkenntnißorganes bildet die Voraussetzung, daß es eine außerhalb unseres
leiblichen Organismus im Raume existirende ausgedehnte Körperwelt giebt, von
deren Dasein und Eigenschaften wir durch ebenfalls im Raume existirende, ausge¬
dehnte körperliche Werkzeuge, Sinnesorgane genannt, Kunde erhalten. Der Philo¬
soph dagegen kennt diese Voraussetzung nicht, wie er überhaupt keinerlei Voraus¬
setzung kennt außer der einzigen, daß er die Wahrheit sucht. Ihm ist also von
vornherein alles zweifelhaft, nur die eine Thatsache des Selbstbewußtseins nicht,
die in den Worten sich ausspricht: „Ich will Wahrheit". Der Philosoph
findet also das erste Gewisse in seinem Selbstbewußtsein. Von hier aus
ist es leicht, zu der Entdeckung zu kommen, daß die sogenannten körperlichen
Sinne sinnlos, todt und stumm bleibe», also keineswegs uns Kunde geben von
irgend etwas, solange nicht die „Wir" oder der „Ich", dem sie Kunde geben
sollen, den Inhalt dieser Kunde zu einen: Objecte seines Bewußtseins erhoben
hat. Alles, was wir wissen, wissen wir nur deshalb und soweit, weil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/536>, abgerufen am 22.07.2024.