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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Buches scheiden, das uns vorliegt.*) Nicht weil es wie eine letzte Zusammen¬
fassung der Lehre des Autors, wie ein literarisches Testament aussieht: wer die
verjüngte Kraft kennt, mit welcher seit einigen Jahren der hochbetagte, aber
unermüdliche Denker wieder unablässig productiv ist, sieht feine Feder noch
lange nicht ruhen. Aber die Frage allerdings drängt erschütternd sich auf:
diese Zusammenfassung aller höchsten Geistestendenzen in einer, ganz dem
Idealen gewidmeten, wir mochten fast sagen priesterlichen Persönlichkeit, ist sie
nicht eine Frucht vergangener Tage? Ist nicht diese harmonische Gesammtbil-
dung, welche dem Gemüthe und dem Verstände, dem poetischen und dem Wahr¬
heitsbedürfniß, der pietätvollen Rücksicht und der kritischen Freiheit, gleichmäßigen
Einfluß verstattet, ein Ideal, das wenigen mehr bekannt, von noch wenigeren
festgehalten ist? Ist aber nicht eben diese Bildungsweise, durch das tiefe innere
Glück, das sie schafft, und die Schöpferluft, die ihr entquillt, ebenso wie durch
die Macht ihres Inhalts, die allein ausgiebige und dauernde Wurzel der Kraft
für jene persönliche Originalität und Geistesgröße, die man bisher als die eigent¬
liche Trägerin aller Culturbewegung zu verehren gewohnt war?

Daß diese Betrachtungen am Platze sind, wenn von Gustav Theodor
Fechner die Rede ist, kann auch anderen als seinen Verehrern schon durch
die schlechthin persönliche, einzigartige Productionsweise klar werden, die ihn
in seinen philosophischen und der Philosophie verwandten Werken von den eigent¬
lichen Männern des Fachs unterscheidet. Bedarf es doch fast einer besonderen
Rechtfertigung dafür, daß wir diese Schriften in die geschichtliche Entwicklung
gerade der Philosophie einreihen. Sie gehören dahin durch ihren fördernden
Werth für diese Wissenschaft und durch die mit dieser gemeinsame Problemstel¬
lung. Aber sie gehören keineswegs nur dahin. Fechner ist, als Autor dieser
Schriften betrachtet, nicht Philosoph, nicht Naturforscher, nicht dieser oder jeuer
Fachmann; er ist eine schriftstellerische Individualität der deutschen Literatur,
zu der wir die vergleichbaren Genossen unter den Dichtern suchen müssen, welche
über philosophische Themata in Prosa schrieben, wie Schiller, wie Jean Paul,
wie Herder, oder unter den Philosophen, welche sich der Sprache des dich¬
terischen Gemüths bedienten und den Postulaten desselben nachgingen, wie F.
H. Jacobi.

Man wolle nicht fürchten, daß uns diese Vergleichungen zum Uebersehen
der Unterschiede verleiten. Die Sprache und Methode Fechners ist bei weitem
wissenschaftlicher als die Jacobis, bei weitem minder von der Poesie durch-
drungen als die Schillers, Herders, Jean Pauls. Die Gründlichkeit in der



Die Tngcsansicht gegenüber der Nachtansicht. Von Gustav Theodor
Fechner. Leipzig, Nreitkopf Ä Hnrtcl, 187l>.

Buches scheiden, das uns vorliegt.*) Nicht weil es wie eine letzte Zusammen¬
fassung der Lehre des Autors, wie ein literarisches Testament aussieht: wer die
verjüngte Kraft kennt, mit welcher seit einigen Jahren der hochbetagte, aber
unermüdliche Denker wieder unablässig productiv ist, sieht feine Feder noch
lange nicht ruhen. Aber die Frage allerdings drängt erschütternd sich auf:
diese Zusammenfassung aller höchsten Geistestendenzen in einer, ganz dem
Idealen gewidmeten, wir mochten fast sagen priesterlichen Persönlichkeit, ist sie
nicht eine Frucht vergangener Tage? Ist nicht diese harmonische Gesammtbil-
dung, welche dem Gemüthe und dem Verstände, dem poetischen und dem Wahr¬
heitsbedürfniß, der pietätvollen Rücksicht und der kritischen Freiheit, gleichmäßigen
Einfluß verstattet, ein Ideal, das wenigen mehr bekannt, von noch wenigeren
festgehalten ist? Ist aber nicht eben diese Bildungsweise, durch das tiefe innere
Glück, das sie schafft, und die Schöpferluft, die ihr entquillt, ebenso wie durch
die Macht ihres Inhalts, die allein ausgiebige und dauernde Wurzel der Kraft
für jene persönliche Originalität und Geistesgröße, die man bisher als die eigent¬
liche Trägerin aller Culturbewegung zu verehren gewohnt war?

Daß diese Betrachtungen am Platze sind, wenn von Gustav Theodor
Fechner die Rede ist, kann auch anderen als seinen Verehrern schon durch
die schlechthin persönliche, einzigartige Productionsweise klar werden, die ihn
in seinen philosophischen und der Philosophie verwandten Werken von den eigent¬
lichen Männern des Fachs unterscheidet. Bedarf es doch fast einer besonderen
Rechtfertigung dafür, daß wir diese Schriften in die geschichtliche Entwicklung
gerade der Philosophie einreihen. Sie gehören dahin durch ihren fördernden
Werth für diese Wissenschaft und durch die mit dieser gemeinsame Problemstel¬
lung. Aber sie gehören keineswegs nur dahin. Fechner ist, als Autor dieser
Schriften betrachtet, nicht Philosoph, nicht Naturforscher, nicht dieser oder jeuer
Fachmann; er ist eine schriftstellerische Individualität der deutschen Literatur,
zu der wir die vergleichbaren Genossen unter den Dichtern suchen müssen, welche
über philosophische Themata in Prosa schrieben, wie Schiller, wie Jean Paul,
wie Herder, oder unter den Philosophen, welche sich der Sprache des dich¬
terischen Gemüths bedienten und den Postulaten desselben nachgingen, wie F.
H. Jacobi.

Man wolle nicht fürchten, daß uns diese Vergleichungen zum Uebersehen
der Unterschiede verleiten. Die Sprache und Methode Fechners ist bei weitem
wissenschaftlicher als die Jacobis, bei weitem minder von der Poesie durch-
drungen als die Schillers, Herders, Jean Pauls. Die Gründlichkeit in der



Die Tngcsansicht gegenüber der Nachtansicht. Von Gustav Theodor
Fechner. Leipzig, Nreitkopf Ä Hnrtcl, 187l>.
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[0534] Buches scheiden, das uns vorliegt.*) Nicht weil es wie eine letzte Zusammen¬ fassung der Lehre des Autors, wie ein literarisches Testament aussieht: wer die verjüngte Kraft kennt, mit welcher seit einigen Jahren der hochbetagte, aber unermüdliche Denker wieder unablässig productiv ist, sieht feine Feder noch lange nicht ruhen. Aber die Frage allerdings drängt erschütternd sich auf: diese Zusammenfassung aller höchsten Geistestendenzen in einer, ganz dem Idealen gewidmeten, wir mochten fast sagen priesterlichen Persönlichkeit, ist sie nicht eine Frucht vergangener Tage? Ist nicht diese harmonische Gesammtbil- dung, welche dem Gemüthe und dem Verstände, dem poetischen und dem Wahr¬ heitsbedürfniß, der pietätvollen Rücksicht und der kritischen Freiheit, gleichmäßigen Einfluß verstattet, ein Ideal, das wenigen mehr bekannt, von noch wenigeren festgehalten ist? Ist aber nicht eben diese Bildungsweise, durch das tiefe innere Glück, das sie schafft, und die Schöpferluft, die ihr entquillt, ebenso wie durch die Macht ihres Inhalts, die allein ausgiebige und dauernde Wurzel der Kraft für jene persönliche Originalität und Geistesgröße, die man bisher als die eigent¬ liche Trägerin aller Culturbewegung zu verehren gewohnt war? Daß diese Betrachtungen am Platze sind, wenn von Gustav Theodor Fechner die Rede ist, kann auch anderen als seinen Verehrern schon durch die schlechthin persönliche, einzigartige Productionsweise klar werden, die ihn in seinen philosophischen und der Philosophie verwandten Werken von den eigent¬ lichen Männern des Fachs unterscheidet. Bedarf es doch fast einer besonderen Rechtfertigung dafür, daß wir diese Schriften in die geschichtliche Entwicklung gerade der Philosophie einreihen. Sie gehören dahin durch ihren fördernden Werth für diese Wissenschaft und durch die mit dieser gemeinsame Problemstel¬ lung. Aber sie gehören keineswegs nur dahin. Fechner ist, als Autor dieser Schriften betrachtet, nicht Philosoph, nicht Naturforscher, nicht dieser oder jeuer Fachmann; er ist eine schriftstellerische Individualität der deutschen Literatur, zu der wir die vergleichbaren Genossen unter den Dichtern suchen müssen, welche über philosophische Themata in Prosa schrieben, wie Schiller, wie Jean Paul, wie Herder, oder unter den Philosophen, welche sich der Sprache des dich¬ terischen Gemüths bedienten und den Postulaten desselben nachgingen, wie F. H. Jacobi. Man wolle nicht fürchten, daß uns diese Vergleichungen zum Uebersehen der Unterschiede verleiten. Die Sprache und Methode Fechners ist bei weitem wissenschaftlicher als die Jacobis, bei weitem minder von der Poesie durch- drungen als die Schillers, Herders, Jean Pauls. Die Gründlichkeit in der Die Tngcsansicht gegenüber der Nachtansicht. Von Gustav Theodor Fechner. Leipzig, Nreitkopf Ä Hnrtcl, 187l>.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/534>, abgerufen am 22.07.2024.