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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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nichts gegen die Uebertragung des ganzen Apparats philologischer Textkritik auf
die Herausgabe neuester Dichter einzuwenden, obschon die modernen ersten
Handschriften sehr oft derart zu sein Pflegen, daß ihnen die Druckeorrecturen
wesentlich zu Hilfe kommen müssen und der Autor beim Zurückgehen auf seine
"ursprüngliche" Lesart nur verlieren kann. Bedenklicher aber steht es schon um
die Annahme, daß um der "Vollständigkeit des Materials" willen kein zufällig
hinterlassenes Blättchen eines Dichters, der einiges Gute geleistet, ungedruckt
bleiben dürfe. Jedenfalls verpflichtet der Grundsatz, alles Hinterlassene wahllos
und unbarmherzig zu publiciren, die neueren Schriftsteller von einigem Ruf
Und Talent, alle von ihnen selbst als unzulänglich betrachteten und verworfenen
Anfänge, ersten Niederschriften und unreifen Entwürfe bei Zeiten zu vernichten.
Wenn daraus für die Schriftsteller der Gegenwart ein Anlaß mehr zur stren¬
geren Selbstkritik erwüchse, so würde dies der Werthschätzung der modernen Lite¬
ratur nur zu Gute kommen. Freilich glauben auch die Herausgeber, welche
"alles Material" veröffentlichen, das ihnen irgend zu Gebote steht, das tiefere
Verständniß der poetischen Production zu fördern, und übersehen, daß sie, wenige
Ausnahmefälle abgerechnet, mit ihren kritischen Gesammtcmsgaben ihre Schrift¬
steller in einen Kreis bannen, den man sich kaum eng genug vorstellen kann.

Ob diese allgemeine Bemerkung auf die neue Ausgabe der "Werke" Georg
Büchners Anwendung leide") oder ob wir es hier mit einem der Ausnahme¬
fälle zu thun haben, erscheint insofern zweifelhaft, als der Poet von "Dantons
Tod" schon von Haus aus nur in kleinen literarisch-politischen Kreisen gewirkt
und gegolten hat und als das Interesse an seinen Fragmenten und Anläufen viel¬
mehr social-politischer, ja wenn man das viel mißbrauchte Wort anwenden will,
culturgeschichtlicher als ästhetischer Natur im engeren Sinne gewesen ist. Zwar
hat sich neuerdings eine Art Büchnercultus ausgebildet, doch wenn wir daran
erinnern, daß derselbe von der socialdemokratischen Partei ausgeht, welche in
dein jugendlichen Poeten und Verschwörer der dreißiger Jahre (nicht ganz mit
Unrecht) eiuen ihrer Vorläufer erblickt, so liegt es auf der Hand, daß hier von
innrer Theilnahme am dichterischen Talent und von besonderem Verständniß für
die vielversprechende dramatische Begabung Büchners kaum die Rede sein kann,
daß die Bewunderung lediglich dem Verfasser der Brandschrift "Der hessische
Landbvte" und vielleicht den Cynismen in den Dcmtonseenen gilt. Und so darf
man jedenfalls annehmen, daß die von Emil Franzos mit großer Sorgfalt her¬
gestellte kritische Gesammtausgabe sammt ihrer biographischen Einleitung, an



*) Georg Büchners Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste
kritische Gesammtausgabe. Eingeleitet und draufgegeben v"n Carl Emil Franzos.
Frankfurt a. M., Sniierlttnder, 1880.
Grenzboten II. 1880. 64

nichts gegen die Uebertragung des ganzen Apparats philologischer Textkritik auf
die Herausgabe neuester Dichter einzuwenden, obschon die modernen ersten
Handschriften sehr oft derart zu sein Pflegen, daß ihnen die Druckeorrecturen
wesentlich zu Hilfe kommen müssen und der Autor beim Zurückgehen auf seine
„ursprüngliche" Lesart nur verlieren kann. Bedenklicher aber steht es schon um
die Annahme, daß um der „Vollständigkeit des Materials" willen kein zufällig
hinterlassenes Blättchen eines Dichters, der einiges Gute geleistet, ungedruckt
bleiben dürfe. Jedenfalls verpflichtet der Grundsatz, alles Hinterlassene wahllos
und unbarmherzig zu publiciren, die neueren Schriftsteller von einigem Ruf
Und Talent, alle von ihnen selbst als unzulänglich betrachteten und verworfenen
Anfänge, ersten Niederschriften und unreifen Entwürfe bei Zeiten zu vernichten.
Wenn daraus für die Schriftsteller der Gegenwart ein Anlaß mehr zur stren¬
geren Selbstkritik erwüchse, so würde dies der Werthschätzung der modernen Lite¬
ratur nur zu Gute kommen. Freilich glauben auch die Herausgeber, welche
„alles Material" veröffentlichen, das ihnen irgend zu Gebote steht, das tiefere
Verständniß der poetischen Production zu fördern, und übersehen, daß sie, wenige
Ausnahmefälle abgerechnet, mit ihren kritischen Gesammtcmsgaben ihre Schrift¬
steller in einen Kreis bannen, den man sich kaum eng genug vorstellen kann.

Ob diese allgemeine Bemerkung auf die neue Ausgabe der „Werke" Georg
Büchners Anwendung leide") oder ob wir es hier mit einem der Ausnahme¬
fälle zu thun haben, erscheint insofern zweifelhaft, als der Poet von „Dantons
Tod" schon von Haus aus nur in kleinen literarisch-politischen Kreisen gewirkt
und gegolten hat und als das Interesse an seinen Fragmenten und Anläufen viel¬
mehr social-politischer, ja wenn man das viel mißbrauchte Wort anwenden will,
culturgeschichtlicher als ästhetischer Natur im engeren Sinne gewesen ist. Zwar
hat sich neuerdings eine Art Büchnercultus ausgebildet, doch wenn wir daran
erinnern, daß derselbe von der socialdemokratischen Partei ausgeht, welche in
dein jugendlichen Poeten und Verschwörer der dreißiger Jahre (nicht ganz mit
Unrecht) eiuen ihrer Vorläufer erblickt, so liegt es auf der Hand, daß hier von
innrer Theilnahme am dichterischen Talent und von besonderem Verständniß für
die vielversprechende dramatische Begabung Büchners kaum die Rede sein kann,
daß die Bewunderung lediglich dem Verfasser der Brandschrift „Der hessische
Landbvte" und vielleicht den Cynismen in den Dcmtonseenen gilt. Und so darf
man jedenfalls annehmen, daß die von Emil Franzos mit großer Sorgfalt her¬
gestellte kritische Gesammtausgabe sammt ihrer biographischen Einleitung, an



*) Georg Büchners Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste
kritische Gesammtausgabe. Eingeleitet und draufgegeben v»n Carl Emil Franzos.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/505>, abgerufen am 22.07.2024.