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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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"Derwisch" persönlicher, satirischer und polemischer verfahren sein. Denn je näher
sich die Feinde im übrigen stehen, desto erbitterter ist ja der Kampf.

Im "Nathan" ist das Märchen von den drei Ringen zum Angelpunkte
gemacht; der "Derwisch", der sich mit den Streitigkeiten der protestantischen
Theologen abgeben sollte, würde im Sinne der schönen Parabel, die Lessing zu
Beginn des Streites mit Götze 1778 schrieb, gehalten gewesen sein, im Sinne
der Parabel vom Palaste des Königs. Am Palaste des Königs waren, wie es
dort heißt, mit der Zeit viele Thüren und Fenstern angebracht; sein eigentliches
Licht empfing aber das Gebäude vou oben. Es entstand nun über den Vorzug
des einen oder des anderen Eingangs oder Fensters Streit, der um so erbit¬
terter wurde, weil man verschiedene alte Grundrisse des ursprünglichen Baues
mit unverständlichen Buchstaben und Zeichen zu haben meinte. Jeder erklärte
sich nun die Zeichen "auf seine Weise und schwur, seine Erklärung sei die rechte;
nur wenige sagten: Was gehen uns die Grundrisse an, haben wir doch den
Tempel selbst von gütigster Weisheit erfüllt. Und als einst der Ruf ertönte,
der Tempel brenne, da lief jeder nur um seinen Grundriß zu retten, aber nicht
den Tempel. Zum Glück war es nur blinder Lärm: der Tempel selbst blieb
unversehrt.




Die Hauptströmungen in der bildenden Kunst der
Gegenwart.
7. Die Schule pilotys: Wilhelm Leiht. Wilhelm Diez. Die
Münchener Illustration. Diez' Schule.

Wie Lenbach, hat auch Wilhelm Leiht, der beste Zeichner der Münchener
Schule, ja noch mehr, der größte Zeichner, den Deutschland gegenwärtig aus¬
zuweisen hat, das Beste seines Könnens nicht der Schule Pilotys, welcher er
äußerlich angehört, sondern dem Studium der alten Meister zu verdanken. Es
ist merkwürdig, daß ein Mann, welcher in der Feinheit und Subtilität der
Zeichnung Dürer und Holbein erreicht hat, ursprünglich die Absicht hatte, seine
riesige Körperkraft als Grobschmied zu verwerthen. Es ist ein doppelt merk¬
würdiges Räthsel, daß er sich in der Schule Pilotys, in welche er 1864 als
Jüngling -- er wurde 1846 in Cöln geboren -- eintrat, nicht jene breite, faust-
sertige Malweise zu eigen machte, welche große Flächen zu bemeistern liebt, son¬
dern eine feine, minutiöse Pinselftthrung adoptirte, welche ihn schließlich zur
Handhabung des Zeichenstifts und der Radirnadel hinüberlenkte. Wie Lenbach,
nahm er sich -- er begann seine Laufbahn als Porträtmaler -- anfangs van
Dyck zum Vorbild und suchte mit den coloristischen Reizen des Helldunkels zu
glänzen, wovon z. B. das Bildniß des Domcapellmeisters Leiht, seines Vaters,


Grwzboten 1l. 1380. so

„Derwisch" persönlicher, satirischer und polemischer verfahren sein. Denn je näher
sich die Feinde im übrigen stehen, desto erbitterter ist ja der Kampf.

Im „Nathan" ist das Märchen von den drei Ringen zum Angelpunkte
gemacht; der „Derwisch", der sich mit den Streitigkeiten der protestantischen
Theologen abgeben sollte, würde im Sinne der schönen Parabel, die Lessing zu
Beginn des Streites mit Götze 1778 schrieb, gehalten gewesen sein, im Sinne
der Parabel vom Palaste des Königs. Am Palaste des Königs waren, wie es
dort heißt, mit der Zeit viele Thüren und Fenstern angebracht; sein eigentliches
Licht empfing aber das Gebäude vou oben. Es entstand nun über den Vorzug
des einen oder des anderen Eingangs oder Fensters Streit, der um so erbit¬
terter wurde, weil man verschiedene alte Grundrisse des ursprünglichen Baues
mit unverständlichen Buchstaben und Zeichen zu haben meinte. Jeder erklärte
sich nun die Zeichen "auf seine Weise und schwur, seine Erklärung sei die rechte;
nur wenige sagten: Was gehen uns die Grundrisse an, haben wir doch den
Tempel selbst von gütigster Weisheit erfüllt. Und als einst der Ruf ertönte,
der Tempel brenne, da lief jeder nur um seinen Grundriß zu retten, aber nicht
den Tempel. Zum Glück war es nur blinder Lärm: der Tempel selbst blieb
unversehrt.




Die Hauptströmungen in der bildenden Kunst der
Gegenwart.
7. Die Schule pilotys: Wilhelm Leiht. Wilhelm Diez. Die
Münchener Illustration. Diez' Schule.

Wie Lenbach, hat auch Wilhelm Leiht, der beste Zeichner der Münchener
Schule, ja noch mehr, der größte Zeichner, den Deutschland gegenwärtig aus¬
zuweisen hat, das Beste seines Könnens nicht der Schule Pilotys, welcher er
äußerlich angehört, sondern dem Studium der alten Meister zu verdanken. Es
ist merkwürdig, daß ein Mann, welcher in der Feinheit und Subtilität der
Zeichnung Dürer und Holbein erreicht hat, ursprünglich die Absicht hatte, seine
riesige Körperkraft als Grobschmied zu verwerthen. Es ist ein doppelt merk¬
würdiges Räthsel, daß er sich in der Schule Pilotys, in welche er 1864 als
Jüngling — er wurde 1846 in Cöln geboren — eintrat, nicht jene breite, faust-
sertige Malweise zu eigen machte, welche große Flächen zu bemeistern liebt, son¬
dern eine feine, minutiöse Pinselftthrung adoptirte, welche ihn schließlich zur
Handhabung des Zeichenstifts und der Radirnadel hinüberlenkte. Wie Lenbach,
nahm er sich — er begann seine Laufbahn als Porträtmaler — anfangs van
Dyck zum Vorbild und suchte mit den coloristischen Reizen des Helldunkels zu
glänzen, wovon z. B. das Bildniß des Domcapellmeisters Leiht, seines Vaters,


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[0473] „Derwisch" persönlicher, satirischer und polemischer verfahren sein. Denn je näher sich die Feinde im übrigen stehen, desto erbitterter ist ja der Kampf. Im „Nathan" ist das Märchen von den drei Ringen zum Angelpunkte gemacht; der „Derwisch", der sich mit den Streitigkeiten der protestantischen Theologen abgeben sollte, würde im Sinne der schönen Parabel, die Lessing zu Beginn des Streites mit Götze 1778 schrieb, gehalten gewesen sein, im Sinne der Parabel vom Palaste des Königs. Am Palaste des Königs waren, wie es dort heißt, mit der Zeit viele Thüren und Fenstern angebracht; sein eigentliches Licht empfing aber das Gebäude vou oben. Es entstand nun über den Vorzug des einen oder des anderen Eingangs oder Fensters Streit, der um so erbit¬ terter wurde, weil man verschiedene alte Grundrisse des ursprünglichen Baues mit unverständlichen Buchstaben und Zeichen zu haben meinte. Jeder erklärte sich nun die Zeichen "auf seine Weise und schwur, seine Erklärung sei die rechte; nur wenige sagten: Was gehen uns die Grundrisse an, haben wir doch den Tempel selbst von gütigster Weisheit erfüllt. Und als einst der Ruf ertönte, der Tempel brenne, da lief jeder nur um seinen Grundriß zu retten, aber nicht den Tempel. Zum Glück war es nur blinder Lärm: der Tempel selbst blieb unversehrt. Die Hauptströmungen in der bildenden Kunst der Gegenwart. 7. Die Schule pilotys: Wilhelm Leiht. Wilhelm Diez. Die Münchener Illustration. Diez' Schule. Wie Lenbach, hat auch Wilhelm Leiht, der beste Zeichner der Münchener Schule, ja noch mehr, der größte Zeichner, den Deutschland gegenwärtig aus¬ zuweisen hat, das Beste seines Könnens nicht der Schule Pilotys, welcher er äußerlich angehört, sondern dem Studium der alten Meister zu verdanken. Es ist merkwürdig, daß ein Mann, welcher in der Feinheit und Subtilität der Zeichnung Dürer und Holbein erreicht hat, ursprünglich die Absicht hatte, seine riesige Körperkraft als Grobschmied zu verwerthen. Es ist ein doppelt merk¬ würdiges Räthsel, daß er sich in der Schule Pilotys, in welche er 1864 als Jüngling — er wurde 1846 in Cöln geboren — eintrat, nicht jene breite, faust- sertige Malweise zu eigen machte, welche große Flächen zu bemeistern liebt, son¬ dern eine feine, minutiöse Pinselftthrung adoptirte, welche ihn schließlich zur Handhabung des Zeichenstifts und der Radirnadel hinüberlenkte. Wie Lenbach, nahm er sich — er begann seine Laufbahn als Porträtmaler — anfangs van Dyck zum Vorbild und suchte mit den coloristischen Reizen des Helldunkels zu glänzen, wovon z. B. das Bildniß des Domcapellmeisters Leiht, seines Vaters, Grwzboten 1l. 1380. so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/473>, abgerufen am 22.07.2024.