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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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als daran noch die letzte Hand hinein zu bringen im Stande war." Aehnlich
äußert er sich auch gegenüber seinein Bruder Karl in einem Briefe vom 7. Nov.
1777: "Mein Stück hat mit unsern jetzigen Schwarzröcken nichts zu thun."
Allerdings hat Lessing einige directe Anspielungen auf Götze einfließen lassen,
wie aus manchen Briefen der Gemeinde in Hamburg, besonders von Elise Rei-
marus, hervorgeht. Aber abgesehen davon, in einem Tendenzstück wie "Nathan"
durfte der Charakter des fanatischen Orthodoxen nicht fehlen. Wie ja Lessing
den Patriarchen selbst der Geschichte zuwider in Jerusalem bleiben läßt, während
er doch selbst bemerkt (Entwürfe, S. 826), daß Saladin nach der Eroberung
von Jerusalem jedenfalls den Patriarchen nicht in der Stadt gelassen habe.
Lessing hätte also diese Gestalt oder wenigstens eine ähnliche geschaffen, selbst
wenn es keinen Götze gegeben hätte.

Anders verhält es sich mit Al Hafi; er ist eine völlig frei hinzuerfundene
Gestalt, und aus dem ersten Entwürfe sehen wir, daß Lessing ursprünglich nur
einen Schatzmeister hat, wenigstens im Entwürfe zum ersten Acte. Erst im zweiten
Acte läßt er den Saladin sagen: "Ich wußte nicht, daß ich einen so erleuch¬
teten Sophi zu meinem Schatzmeister hätte". Man sieht, daß Lessing erst all¬
mählich dazu kam, die Nebenfigur des Schatzmeisters zum Derwisch Al Hast zu
gestalten. In der Fabel des Stückes selbst lag kein irgendwie zwingender
Grund, diese rein episodisch gehaltene Gestalt einzufügen. Gerade deswegen
muß man aber annehmen, daß Lessing durch besondere Gründe zu dieser Weiter¬
ausbildung geführt wurde, daß irgend eine Persönlichkeit ihn dazu anregte, kurz,
daß Lessing hier in höherem Maße als in den anderen Gestalten ein Porträt
gegeben hat. Das Original aber zu diesem Porträt scheint niemand anders
gewesen zu sein als der Hallesche Professor der Theologie Semler.

Die protestantische Theologie des 17. Jahrhunderts war zu reiner Schul¬
theologie verknöchert, nirgends betonte sie die Innigkeit des religiösen Wesens.
Im Gegensatze dazu erhob sich der Pietismus, der sich fast ausschließlich auf
das religiöse Gefühlsleben beschränkte und die wissenschaftliche Theologie wenig
beachtete. Als aber, namentlich von den englischen Philosophen, Angriffe gegen
den Bibelglauben gemacht wurden, sah sich die protestantische Theologie gezwungen,
mit anderen Waffen als bisher, mit wirklich wissenschaftlichen Waffen, ihre Stel¬
lung zu vertheidigen. Sie mußte sich mit Hilfe der Kritik daran machen, zu
untersuchen, wie die Bibel entstanden sei und welche Veränderungen ihr Text
im Laufe der Zeit erfahren habe, kurz, was in ihr historisch ächt und was
spätere Zuthat sei. Einer der ersten dieser Bibelkritiker war Wettstein (geht.
1754), der eine kritische Ausgabe des neuen Testamentes herausgab. Auf der¬
selben Bahn wie ihn finden wir später Ernesti, der aber in das Extrem verfiel,
die Erklärung mit allzu großer Nüchternheit zu behandeln. Auf den Schultern


als daran noch die letzte Hand hinein zu bringen im Stande war." Aehnlich
äußert er sich auch gegenüber seinein Bruder Karl in einem Briefe vom 7. Nov.
1777: „Mein Stück hat mit unsern jetzigen Schwarzröcken nichts zu thun."
Allerdings hat Lessing einige directe Anspielungen auf Götze einfließen lassen,
wie aus manchen Briefen der Gemeinde in Hamburg, besonders von Elise Rei-
marus, hervorgeht. Aber abgesehen davon, in einem Tendenzstück wie „Nathan"
durfte der Charakter des fanatischen Orthodoxen nicht fehlen. Wie ja Lessing
den Patriarchen selbst der Geschichte zuwider in Jerusalem bleiben läßt, während
er doch selbst bemerkt (Entwürfe, S. 826), daß Saladin nach der Eroberung
von Jerusalem jedenfalls den Patriarchen nicht in der Stadt gelassen habe.
Lessing hätte also diese Gestalt oder wenigstens eine ähnliche geschaffen, selbst
wenn es keinen Götze gegeben hätte.

Anders verhält es sich mit Al Hafi; er ist eine völlig frei hinzuerfundene
Gestalt, und aus dem ersten Entwürfe sehen wir, daß Lessing ursprünglich nur
einen Schatzmeister hat, wenigstens im Entwürfe zum ersten Acte. Erst im zweiten
Acte läßt er den Saladin sagen: „Ich wußte nicht, daß ich einen so erleuch¬
teten Sophi zu meinem Schatzmeister hätte". Man sieht, daß Lessing erst all¬
mählich dazu kam, die Nebenfigur des Schatzmeisters zum Derwisch Al Hast zu
gestalten. In der Fabel des Stückes selbst lag kein irgendwie zwingender
Grund, diese rein episodisch gehaltene Gestalt einzufügen. Gerade deswegen
muß man aber annehmen, daß Lessing durch besondere Gründe zu dieser Weiter¬
ausbildung geführt wurde, daß irgend eine Persönlichkeit ihn dazu anregte, kurz,
daß Lessing hier in höherem Maße als in den anderen Gestalten ein Porträt
gegeben hat. Das Original aber zu diesem Porträt scheint niemand anders
gewesen zu sein als der Hallesche Professor der Theologie Semler.

Die protestantische Theologie des 17. Jahrhunderts war zu reiner Schul¬
theologie verknöchert, nirgends betonte sie die Innigkeit des religiösen Wesens.
Im Gegensatze dazu erhob sich der Pietismus, der sich fast ausschließlich auf
das religiöse Gefühlsleben beschränkte und die wissenschaftliche Theologie wenig
beachtete. Als aber, namentlich von den englischen Philosophen, Angriffe gegen
den Bibelglauben gemacht wurden, sah sich die protestantische Theologie gezwungen,
mit anderen Waffen als bisher, mit wirklich wissenschaftlichen Waffen, ihre Stel¬
lung zu vertheidigen. Sie mußte sich mit Hilfe der Kritik daran machen, zu
untersuchen, wie die Bibel entstanden sei und welche Veränderungen ihr Text
im Laufe der Zeit erfahren habe, kurz, was in ihr historisch ächt und was
spätere Zuthat sei. Einer der ersten dieser Bibelkritiker war Wettstein (geht.
1754), der eine kritische Ausgabe des neuen Testamentes herausgab. Auf der¬
selben Bahn wie ihn finden wir später Ernesti, der aber in das Extrem verfiel,
die Erklärung mit allzu großer Nüchternheit zu behandeln. Auf den Schultern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/468>, abgerufen am 22.07.2024.