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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Der Derwisch (Al Hafi),
ein Nachspiel zu Lessinas Nathan.
Otto Schuchardt. von

Für die Erklärung von Lessings "Nathan" bietet fast keine Gestalt so große
Schwierigkeiten wie der Schatzmeister des Sultan, der Derwisch Al Hafi. Sein
Charakter wird auf die verschiedenste Weise ausgelegt: als der eines Schwär¬
mers, eines Egoisten, eines edlen Menschen mit rauher Schale, aber gutem
Kern, eines Philosophen, der die Welt verachtet u. s. w. Man müßte fast
glauben, daß es Lessing nicht verstanden habe, diesen Charakter klar herauszu¬
arbeiten, wenn nicht andererseits gerade diese Gestalt so vieles in sich trüge,
was ein besonderes Interesse erweckt.

Man kann den Eindruck, den Al Haft neben den anderen Gestalten des
Dramas auf uns macht, dem Eindrucke vergleichen, den wir in einem Saale
voll Jdealbüsten durch eine Porträtbüste erhalten. Nachdem wir eine Anzahl
typisch gehaltener Köpfe gesehen, fällt uns plötzlich ein Porträtkopf in die Augen,
an dem wir nicht die oder jene Eigenschaft besonders hervortreten und gewisser¬
maßen verkörpert sehen, so daß der Kopf eigentlich eine Allegorie böte, sondern
den Menschen, wie ihn das Leben bildet und abschleift. Haben wir so eine An¬
zahl typisch gehaltener Köpfe gesehen, dann frappirt uns die Porträtbüste gerade
durch ihre Naturwahrheit, sie interessirt uns schon des Gegensatzes wegen. Diese
Erfahrung ist vielleicht für die Beurtheilung des Al Hast als Grundlage an¬
zunehmen: Alle anderen Gestalten sind, mit dieser verglichen, Typen, Al Hafi ist
mehr Porträt als irgend eine Gestalt des Dramas.

Nun kann man freilich sagen, der Patriarch sei auch Porträt, nämlich das
des Hauptpastors Götze. Doch ist dies nur in dem Sinne der Fall, wie etwa
ein Bildhauer die Züge eines bestimmten Menschen als Modell benutzen würde,
um irgend einen Jdealkopf darzustellen. Der Künstler würde alles rein indivi¬
duelle weglassen und nur die Züge seines Modells benutzen, die sich auch für
den betreffenden Jdealkopf eignen. Für die Darstellung Götzens als Patriarchen
gilt das, was Lessing im Entwürfe zur Vorrede sagt (Lessings Dranmt. Ent¬
würfe, S. 784a. Hempelsche Ausgabe): "Allerdings ist die dritte Novelle des
ersten Buches (Boccaccio) der Keim aus dem sich Nathan bei mir entwickelt
hat. Aber nicht erst itzt, nicht erst nach der Streitigkeit, in welche man
einen Laien wie mich nicht bei den Haaren hätte ziehen sollen. Ich erinnere
dies gleich anfangs, damit meine Leser nicht mehr Anspielungen suchen mögen,


Der Derwisch (Al Hafi),
ein Nachspiel zu Lessinas Nathan.
Otto Schuchardt. von

Für die Erklärung von Lessings „Nathan" bietet fast keine Gestalt so große
Schwierigkeiten wie der Schatzmeister des Sultan, der Derwisch Al Hafi. Sein
Charakter wird auf die verschiedenste Weise ausgelegt: als der eines Schwär¬
mers, eines Egoisten, eines edlen Menschen mit rauher Schale, aber gutem
Kern, eines Philosophen, der die Welt verachtet u. s. w. Man müßte fast
glauben, daß es Lessing nicht verstanden habe, diesen Charakter klar herauszu¬
arbeiten, wenn nicht andererseits gerade diese Gestalt so vieles in sich trüge,
was ein besonderes Interesse erweckt.

Man kann den Eindruck, den Al Haft neben den anderen Gestalten des
Dramas auf uns macht, dem Eindrucke vergleichen, den wir in einem Saale
voll Jdealbüsten durch eine Porträtbüste erhalten. Nachdem wir eine Anzahl
typisch gehaltener Köpfe gesehen, fällt uns plötzlich ein Porträtkopf in die Augen,
an dem wir nicht die oder jene Eigenschaft besonders hervortreten und gewisser¬
maßen verkörpert sehen, so daß der Kopf eigentlich eine Allegorie böte, sondern
den Menschen, wie ihn das Leben bildet und abschleift. Haben wir so eine An¬
zahl typisch gehaltener Köpfe gesehen, dann frappirt uns die Porträtbüste gerade
durch ihre Naturwahrheit, sie interessirt uns schon des Gegensatzes wegen. Diese
Erfahrung ist vielleicht für die Beurtheilung des Al Hast als Grundlage an¬
zunehmen: Alle anderen Gestalten sind, mit dieser verglichen, Typen, Al Hafi ist
mehr Porträt als irgend eine Gestalt des Dramas.

Nun kann man freilich sagen, der Patriarch sei auch Porträt, nämlich das
des Hauptpastors Götze. Doch ist dies nur in dem Sinne der Fall, wie etwa
ein Bildhauer die Züge eines bestimmten Menschen als Modell benutzen würde,
um irgend einen Jdealkopf darzustellen. Der Künstler würde alles rein indivi¬
duelle weglassen und nur die Züge seines Modells benutzen, die sich auch für
den betreffenden Jdealkopf eignen. Für die Darstellung Götzens als Patriarchen
gilt das, was Lessing im Entwürfe zur Vorrede sagt (Lessings Dranmt. Ent¬
würfe, S. 784a. Hempelsche Ausgabe): „Allerdings ist die dritte Novelle des
ersten Buches (Boccaccio) der Keim aus dem sich Nathan bei mir entwickelt
hat. Aber nicht erst itzt, nicht erst nach der Streitigkeit, in welche man
einen Laien wie mich nicht bei den Haaren hätte ziehen sollen. Ich erinnere
dies gleich anfangs, damit meine Leser nicht mehr Anspielungen suchen mögen,


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[0467] Der Derwisch (Al Hafi), ein Nachspiel zu Lessinas Nathan. Otto Schuchardt. von Für die Erklärung von Lessings „Nathan" bietet fast keine Gestalt so große Schwierigkeiten wie der Schatzmeister des Sultan, der Derwisch Al Hafi. Sein Charakter wird auf die verschiedenste Weise ausgelegt: als der eines Schwär¬ mers, eines Egoisten, eines edlen Menschen mit rauher Schale, aber gutem Kern, eines Philosophen, der die Welt verachtet u. s. w. Man müßte fast glauben, daß es Lessing nicht verstanden habe, diesen Charakter klar herauszu¬ arbeiten, wenn nicht andererseits gerade diese Gestalt so vieles in sich trüge, was ein besonderes Interesse erweckt. Man kann den Eindruck, den Al Haft neben den anderen Gestalten des Dramas auf uns macht, dem Eindrucke vergleichen, den wir in einem Saale voll Jdealbüsten durch eine Porträtbüste erhalten. Nachdem wir eine Anzahl typisch gehaltener Köpfe gesehen, fällt uns plötzlich ein Porträtkopf in die Augen, an dem wir nicht die oder jene Eigenschaft besonders hervortreten und gewisser¬ maßen verkörpert sehen, so daß der Kopf eigentlich eine Allegorie böte, sondern den Menschen, wie ihn das Leben bildet und abschleift. Haben wir so eine An¬ zahl typisch gehaltener Köpfe gesehen, dann frappirt uns die Porträtbüste gerade durch ihre Naturwahrheit, sie interessirt uns schon des Gegensatzes wegen. Diese Erfahrung ist vielleicht für die Beurtheilung des Al Hast als Grundlage an¬ zunehmen: Alle anderen Gestalten sind, mit dieser verglichen, Typen, Al Hafi ist mehr Porträt als irgend eine Gestalt des Dramas. Nun kann man freilich sagen, der Patriarch sei auch Porträt, nämlich das des Hauptpastors Götze. Doch ist dies nur in dem Sinne der Fall, wie etwa ein Bildhauer die Züge eines bestimmten Menschen als Modell benutzen würde, um irgend einen Jdealkopf darzustellen. Der Künstler würde alles rein indivi¬ duelle weglassen und nur die Züge seines Modells benutzen, die sich auch für den betreffenden Jdealkopf eignen. Für die Darstellung Götzens als Patriarchen gilt das, was Lessing im Entwürfe zur Vorrede sagt (Lessings Dranmt. Ent¬ würfe, S. 784a. Hempelsche Ausgabe): „Allerdings ist die dritte Novelle des ersten Buches (Boccaccio) der Keim aus dem sich Nathan bei mir entwickelt hat. Aber nicht erst itzt, nicht erst nach der Streitigkeit, in welche man einen Laien wie mich nicht bei den Haaren hätte ziehen sollen. Ich erinnere dies gleich anfangs, damit meine Leser nicht mehr Anspielungen suchen mögen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/467>, abgerufen am 03.07.2024.