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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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eine Vereinigte Republik Großbritannien und Irland entstanden sein. Zwar
säßen im Unterhause erst ungefähr ein Dutzend Republikaner, aber kurz vor
dem Sturze des zweiten französischen Kaiserreichs hätte der Gesetzgebende Körper
nicht mehr als fünf Deputirte dieser Farbe aufzuweisen gehabt. Wie in Frank¬
reich, so werde auch in Großbritannien die agrarische Frage die monarchische
und feudale Gesellschaft zu Falle bringen. Selbst die radiealsten der englischen
Radicalen werden diese Erwartungen nicht theilen. Ein Körnchen Wahrheit
aber ist in jenem Raisonnement enthalten. Gladstone hat die agrarische Frage
ins Auge gefaßt, der Radicalismus hat bei den Wahlen eine beachtenswerthe
Macht entwickelt, und man hat dies bei der Neubildung des Cabinets berück¬
sichtigt. 1874 staunte die englische Aristokratie, als Macdonald und Bird, zwei
Handwerker, ins Parlament gelangten. 1880 hatte sie noch mehr Ursache, sich
zu verwundern. Die Gewerkvereine, die Republikaner und die Freidenker sind
bei den letzten Wahlen viel deutlicher hervorgetreten und zu erheblich größeren
Erfolgen gelangt als sechs Jahre vorher. Sie haben gegen 3V entschiedene
Radicale ins Unterhaus gesandt. Der Eintritt Dilkes in das Ministerium sieht
wie der Vorbote einer Regierungsvorlage aus, welche alle Beschränkungen des
allgemeinen Stimmrechts, die noch existiren, wegräumen würde, wenn sie durch¬
ginge; denn der neue Unterstaatssecretär hat mit Beharrlichkeit alljährlich die
Ausdehnung des Wählerrechts, welches die Reform von 1867 den Bewohnern
der Städte verlieh, auf die Landbevölkerung befürwortet. Ein sehr wichtiges
Zeichen der Zeit ist endlich die in Nvrthampton erfolgte Wahl Bradlaughs, der
nicht nur Republikaner, fondern ein überaus fortgeschrittener Freidenker ist und
sowohl in seinem Blatte, dem Mrior>s.I listorrasr als in zahlreichen Volks¬
versammlungen und Partei-Meetings mit Heftigkeit und nicht ohne Geist die
religiösen Anschauungen bekämpft hat, die in England alles Uebrige beherrschen.

Wichtiger für uns als das, was die Zukunft hinsichtlich der inneren Politik
Englands im Schoße birgt, ist das, was das Cabinet Gladstone hinsichtlich der
auswärtigen Angelegenheiten vorzuhaben scheint. Die alte Politik der Enthalt¬
samkeit scheint aufgegeben zu sein und mit einer Action vertauscht werden zu
sollen, die sich aber wesentlich von dem Verfahren des Tory - Cabinets unter¬
scheiden würde. Die Absicht der Leiter der neuen Regierung geht, nach dem
zu schließen, was bisher über sie zu Tage gekommen ist, auf den Versuch hin,
sich mit den festländischen Mächten über die endgiltige Lösung der orientalischen
Frage zu verständigen. Die Basis dieser Verständigung würde nach dem Wunsche
der Londoner Politiker das Recht der die Türkei bewohnenden Völkerschaften
auf Selbstregierung sein, und die dieses Recht verwirklichenden Bestimmungen
hätten sich möglichst innerhalb der Grenzen zu bewegen, die der Berliner Con-
greß gezogen. Man würde zunächst die Pforte veranlassen, sich umzugestalten


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eine Vereinigte Republik Großbritannien und Irland entstanden sein. Zwar
säßen im Unterhause erst ungefähr ein Dutzend Republikaner, aber kurz vor
dem Sturze des zweiten französischen Kaiserreichs hätte der Gesetzgebende Körper
nicht mehr als fünf Deputirte dieser Farbe aufzuweisen gehabt. Wie in Frank¬
reich, so werde auch in Großbritannien die agrarische Frage die monarchische
und feudale Gesellschaft zu Falle bringen. Selbst die radiealsten der englischen
Radicalen werden diese Erwartungen nicht theilen. Ein Körnchen Wahrheit
aber ist in jenem Raisonnement enthalten. Gladstone hat die agrarische Frage
ins Auge gefaßt, der Radicalismus hat bei den Wahlen eine beachtenswerthe
Macht entwickelt, und man hat dies bei der Neubildung des Cabinets berück¬
sichtigt. 1874 staunte die englische Aristokratie, als Macdonald und Bird, zwei
Handwerker, ins Parlament gelangten. 1880 hatte sie noch mehr Ursache, sich
zu verwundern. Die Gewerkvereine, die Republikaner und die Freidenker sind
bei den letzten Wahlen viel deutlicher hervorgetreten und zu erheblich größeren
Erfolgen gelangt als sechs Jahre vorher. Sie haben gegen 3V entschiedene
Radicale ins Unterhaus gesandt. Der Eintritt Dilkes in das Ministerium sieht
wie der Vorbote einer Regierungsvorlage aus, welche alle Beschränkungen des
allgemeinen Stimmrechts, die noch existiren, wegräumen würde, wenn sie durch¬
ginge; denn der neue Unterstaatssecretär hat mit Beharrlichkeit alljährlich die
Ausdehnung des Wählerrechts, welches die Reform von 1867 den Bewohnern
der Städte verlieh, auf die Landbevölkerung befürwortet. Ein sehr wichtiges
Zeichen der Zeit ist endlich die in Nvrthampton erfolgte Wahl Bradlaughs, der
nicht nur Republikaner, fondern ein überaus fortgeschrittener Freidenker ist und
sowohl in seinem Blatte, dem Mrior>s.I listorrasr als in zahlreichen Volks¬
versammlungen und Partei-Meetings mit Heftigkeit und nicht ohne Geist die
religiösen Anschauungen bekämpft hat, die in England alles Uebrige beherrschen.

Wichtiger für uns als das, was die Zukunft hinsichtlich der inneren Politik
Englands im Schoße birgt, ist das, was das Cabinet Gladstone hinsichtlich der
auswärtigen Angelegenheiten vorzuhaben scheint. Die alte Politik der Enthalt¬
samkeit scheint aufgegeben zu sein und mit einer Action vertauscht werden zu
sollen, die sich aber wesentlich von dem Verfahren des Tory - Cabinets unter¬
scheiden würde. Die Absicht der Leiter der neuen Regierung geht, nach dem
zu schließen, was bisher über sie zu Tage gekommen ist, auf den Versuch hin,
sich mit den festländischen Mächten über die endgiltige Lösung der orientalischen
Frage zu verständigen. Die Basis dieser Verständigung würde nach dem Wunsche
der Londoner Politiker das Recht der die Türkei bewohnenden Völkerschaften
auf Selbstregierung sein, und die dieses Recht verwirklichenden Bestimmungen
hätten sich möglichst innerhalb der Grenzen zu bewegen, die der Berliner Con-
greß gezogen. Man würde zunächst die Pforte veranlassen, sich umzugestalten


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[0457] eine Vereinigte Republik Großbritannien und Irland entstanden sein. Zwar säßen im Unterhause erst ungefähr ein Dutzend Republikaner, aber kurz vor dem Sturze des zweiten französischen Kaiserreichs hätte der Gesetzgebende Körper nicht mehr als fünf Deputirte dieser Farbe aufzuweisen gehabt. Wie in Frank¬ reich, so werde auch in Großbritannien die agrarische Frage die monarchische und feudale Gesellschaft zu Falle bringen. Selbst die radiealsten der englischen Radicalen werden diese Erwartungen nicht theilen. Ein Körnchen Wahrheit aber ist in jenem Raisonnement enthalten. Gladstone hat die agrarische Frage ins Auge gefaßt, der Radicalismus hat bei den Wahlen eine beachtenswerthe Macht entwickelt, und man hat dies bei der Neubildung des Cabinets berück¬ sichtigt. 1874 staunte die englische Aristokratie, als Macdonald und Bird, zwei Handwerker, ins Parlament gelangten. 1880 hatte sie noch mehr Ursache, sich zu verwundern. Die Gewerkvereine, die Republikaner und die Freidenker sind bei den letzten Wahlen viel deutlicher hervorgetreten und zu erheblich größeren Erfolgen gelangt als sechs Jahre vorher. Sie haben gegen 3V entschiedene Radicale ins Unterhaus gesandt. Der Eintritt Dilkes in das Ministerium sieht wie der Vorbote einer Regierungsvorlage aus, welche alle Beschränkungen des allgemeinen Stimmrechts, die noch existiren, wegräumen würde, wenn sie durch¬ ginge; denn der neue Unterstaatssecretär hat mit Beharrlichkeit alljährlich die Ausdehnung des Wählerrechts, welches die Reform von 1867 den Bewohnern der Städte verlieh, auf die Landbevölkerung befürwortet. Ein sehr wichtiges Zeichen der Zeit ist endlich die in Nvrthampton erfolgte Wahl Bradlaughs, der nicht nur Republikaner, fondern ein überaus fortgeschrittener Freidenker ist und sowohl in seinem Blatte, dem Mrior>s.I listorrasr als in zahlreichen Volks¬ versammlungen und Partei-Meetings mit Heftigkeit und nicht ohne Geist die religiösen Anschauungen bekämpft hat, die in England alles Uebrige beherrschen. Wichtiger für uns als das, was die Zukunft hinsichtlich der inneren Politik Englands im Schoße birgt, ist das, was das Cabinet Gladstone hinsichtlich der auswärtigen Angelegenheiten vorzuhaben scheint. Die alte Politik der Enthalt¬ samkeit scheint aufgegeben zu sein und mit einer Action vertauscht werden zu sollen, die sich aber wesentlich von dem Verfahren des Tory - Cabinets unter¬ scheiden würde. Die Absicht der Leiter der neuen Regierung geht, nach dem zu schließen, was bisher über sie zu Tage gekommen ist, auf den Versuch hin, sich mit den festländischen Mächten über die endgiltige Lösung der orientalischen Frage zu verständigen. Die Basis dieser Verständigung würde nach dem Wunsche der Londoner Politiker das Recht der die Türkei bewohnenden Völkerschaften auf Selbstregierung sein, und die dieses Recht verwirklichenden Bestimmungen hätten sich möglichst innerhalb der Grenzen zu bewegen, die der Berliner Con- greß gezogen. Man würde zunächst die Pforte veranlassen, sich umzugestalten Grenzboten II. 1«L0. 58

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/457>, abgerufen am 03.07.2024.