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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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so schonend geschrieben, wie der Zweck es erlaubt, und die Darstellung fließt in
klarer und anziehender Sprache lebensvoll dahin. Dennoch wird niemand das Buch
mit ungemischter Befriedigung lesen, wie es auch der Verfasser nicht mit solcher
geschrieben hat.

Anders ist es mit dem zweiten Werke, welches Paul de Musset dem Andenken
seines Bruders gewidmet hat. Als Ende 1876 Paul Lindaus Buch über Alfred
de Musset erschien, da zögerte der hochbetagte Bruder des Dichters nicht länger, auch
seine schon längst beinahe vollendete Biographie zu veröffentlichen. Diese Lebensbe¬
schreibung ist eine der liebenswürdigsten, welche je geschrieben worden sind. Für das
Buch jedes anderen Verfassers möchte es ein Vorwurf sein, daß die volle kritische Unbe¬
fangenheit fehlt; für das Buch des Bruders ist es kein Vorwurf, wenn auch dieser
Umstand zu großer Vorsicht in der Benutzung nöthigt. Der Verfasser hat nichts
gesagt, was nicht wahr ist, aber er hat manches, was wahr ist, nicht gesagt. Den¬
noch hat die Darstellung hohen Werth. Der Bruder hat in der Seele des Bruders
jederzeit wie in einem offenen Buche gelesen, das Zusammenwirken inneren Dranges
und äußeren Anstoßes, welchem alle bedeutenden Dichtungen dieses gottbegnadeter
Poeten ihre Entstehung verdanken, hat er gekannt wie kein zweiter. Er faßt seine
Aufgabe in würdigster Weise dahin auf, daß es gelte aus dem Menschen den Dichter
und die Dichtung zu erklären, und er löst sie, indem er große und kleine Züge,
welche er mit dem Scharfblick des Herzens beobachtet hat, zu einem lebensvollen
Charakterbilde verwebt, zu einem Bilde, das wahrhaft leuchtet von idealer Wahr¬
heit. Die Schatten fehlen nicht, aber sie stören nicht den Gesammteindruck. Mit
welchem Zartgefühl Paul de Musset Schwächen seines Bruders entschuldigend ein¬
zugestehen weiß, davon nur ein Beispiel. Während er nie von den Ausschwei¬
fungen spricht, welche Alfred im Genusse geistiger Getränke begangen haben soll,
läßt er ihn selbst diese Schwäche zugestehen, aber in einer Weise, welche jeden Vor¬
wurf in Mitleid erstickt. Es geschieht dies in einem Sonett, welches im Jahre
1844 an Maxime Zaudert, die marr-uns, gerichtet ist und welches ich übersetze,
so gut ich kann.


Es macht mir wenig aus, wenn Thoren mich verschrei'",
Wenn, mit der üblichen Theilnahme falschem Schein,*)
Der, welchem gestern ich vertraut die Hand gegeben,
Mir heute Trunkenheit schuld giebt und wüstes Leben.
Weit minder ist solch Volk mir Freund als ein Glas Wein,
Das Viertelstunden mich dem Elend kann entheben.
Doch du, der offen liegt mein ganzes Sein und Streben,
Du, der ich nichts verschwieg, auch nicht des Aergers Pein,
Geziemt es wirklich dir so ungerecht zu richten
Und ward mein Wesen dir so fremd mit einem Mal?
Mußt, was nur Unglück ist, du um zum Laster dichten?


*) Lous Is tÄux somvlimt ä'an intoröt vulgäre.

so schonend geschrieben, wie der Zweck es erlaubt, und die Darstellung fließt in
klarer und anziehender Sprache lebensvoll dahin. Dennoch wird niemand das Buch
mit ungemischter Befriedigung lesen, wie es auch der Verfasser nicht mit solcher
geschrieben hat.

Anders ist es mit dem zweiten Werke, welches Paul de Musset dem Andenken
seines Bruders gewidmet hat. Als Ende 1876 Paul Lindaus Buch über Alfred
de Musset erschien, da zögerte der hochbetagte Bruder des Dichters nicht länger, auch
seine schon längst beinahe vollendete Biographie zu veröffentlichen. Diese Lebensbe¬
schreibung ist eine der liebenswürdigsten, welche je geschrieben worden sind. Für das
Buch jedes anderen Verfassers möchte es ein Vorwurf sein, daß die volle kritische Unbe¬
fangenheit fehlt; für das Buch des Bruders ist es kein Vorwurf, wenn auch dieser
Umstand zu großer Vorsicht in der Benutzung nöthigt. Der Verfasser hat nichts
gesagt, was nicht wahr ist, aber er hat manches, was wahr ist, nicht gesagt. Den¬
noch hat die Darstellung hohen Werth. Der Bruder hat in der Seele des Bruders
jederzeit wie in einem offenen Buche gelesen, das Zusammenwirken inneren Dranges
und äußeren Anstoßes, welchem alle bedeutenden Dichtungen dieses gottbegnadeter
Poeten ihre Entstehung verdanken, hat er gekannt wie kein zweiter. Er faßt seine
Aufgabe in würdigster Weise dahin auf, daß es gelte aus dem Menschen den Dichter
und die Dichtung zu erklären, und er löst sie, indem er große und kleine Züge,
welche er mit dem Scharfblick des Herzens beobachtet hat, zu einem lebensvollen
Charakterbilde verwebt, zu einem Bilde, das wahrhaft leuchtet von idealer Wahr¬
heit. Die Schatten fehlen nicht, aber sie stören nicht den Gesammteindruck. Mit
welchem Zartgefühl Paul de Musset Schwächen seines Bruders entschuldigend ein¬
zugestehen weiß, davon nur ein Beispiel. Während er nie von den Ausschwei¬
fungen spricht, welche Alfred im Genusse geistiger Getränke begangen haben soll,
läßt er ihn selbst diese Schwäche zugestehen, aber in einer Weise, welche jeden Vor¬
wurf in Mitleid erstickt. Es geschieht dies in einem Sonett, welches im Jahre
1844 an Maxime Zaudert, die marr-uns, gerichtet ist und welches ich übersetze,
so gut ich kann.


Es macht mir wenig aus, wenn Thoren mich verschrei'»,
Wenn, mit der üblichen Theilnahme falschem Schein,*)
Der, welchem gestern ich vertraut die Hand gegeben,
Mir heute Trunkenheit schuld giebt und wüstes Leben.
Weit minder ist solch Volk mir Freund als ein Glas Wein,
Das Viertelstunden mich dem Elend kann entheben.
Doch du, der offen liegt mein ganzes Sein und Streben,
Du, der ich nichts verschwieg, auch nicht des Aergers Pein,
Geziemt es wirklich dir so ungerecht zu richten
Und ward mein Wesen dir so fremd mit einem Mal?
Mußt, was nur Unglück ist, du um zum Laster dichten?


*) Lous Is tÄux somvlimt ä'an intoröt vulgäre.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/431>, abgerufen am 22.07.2024.