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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Wahlen ein treues Bild der herrschenden Zustände abspiegeln" und, wie wir
hinzufügen, niemand gezwungen wird, nach den liberalen Doctrinen selig zu
werden. Aus diesen Erwägungen darf man die ersten Proben der neuen Wahl-
form in England nicht für entscheidend für deren Werth ansehen. Die dritte,
d. h. die diesjährigen Maiwahlen, war schon erheblich anderer Natur. Die Whigs
haben nur mit Unterstützung der Radicalen gesiegt und werden fortan auf
dieselben Rücksicht zu nehmen genöthigt sein. Ueberdies aber genießt in England
die Volksvertretung keineswegs ganz mehr die einstige Selbstherrlichkeit; denn
in wesentlichen Fragen hat sie sich in den letzten Jahren der Volksstimmung
anbequemen müssen, welche in der Presse sich ausspricht. Mit anderen Worten:
Wie die Krone nnr noch der Schatten von dem ist, was sie ehedem war, so
schreibt dort die öffentliche Meinung, von der man bei uns mehr redet und
schreibt als wahrnimmt, den Herren Gesetzgebern im Unterhause vielfach ihr
Thun und Lassen vor.

Schon längst hat es in England eine radicale Partei gegeben. Es ist die so¬
genannte Manchesterschule, zu deren Häuptern Cobden und Bright zählen, und die
man vielleicht richtiger als die amerikanische Schule bezeichnet. Diese Politiker be¬
trachten die nordamerikanische Union als Ideal und Musterstaat. Letztere galt bis
in die ersten sechziger Jahre noch als Anomalie, als Versuch, die wahre Freiheit
auf die Erde zu verpflanzen, ein Versuch, der nur bei dünn gesäeter Bevölke¬
rung und bei vollständigem Mangel an gefährlichen Nachbarn statthaft wäre,
und in Betreff dessen man die Prüfuugsstunde noch abzuwarten hätte. Diese
Prüfung schien mit dein großen Bürgerkriege gekommen zu sein, und siehe da,
als derselbe beendigt war, hatte die demokratische Staatsform ihre Lebensfähig¬
keit wenigstens für die jetzt lebende Generation dargethan. Die Folgen blieben
für England nicht aus; denn jetzt erhielt die amerikanische Schule unter seinen
Politikern Credit. Die erste Nachwirkung war die oben erwähnte Einführung
des allgemeinen Wahlrechts, die zweite ein starker Niedergang der Tory-Partei
und ihr Rücktritt von der Regierung. Die Königin berief zur Uebernahme der
letzteren ein Whig-Ministerium mit Gladstone an der Spitze, und dessen erster
Schritt war, sich mit John Bright, dem guten Freunde und Gesinnungsgenossen
Mazzinis, Louis Blancs und Kossuths, zu alliiren. Die nächste politische That
des neuen Premiers war die Entstaatlichung der irischen Kirche, die nicht bloß
eine Abschlagszahlung auf die Ansprüche der unruhigen Jrländer war, sondern
einen unleugbar amerikanischen Anstrich hatte, indem sie den Zweck verfolgte,
den Staat von jedem confessionellen Beigeschmacke zu befreien. Auch die eng¬
lische Hochkirche wird einmal aufhören, Staatskirche zu sein,'da was dem
irischen Katholiken recht ist, doch wohl auch den englischen Dissentern billig sein
wird, und da die unnatürlichen Rechte der Prälaten hier zwei mächtige Feinde,


Wahlen ein treues Bild der herrschenden Zustände abspiegeln" und, wie wir
hinzufügen, niemand gezwungen wird, nach den liberalen Doctrinen selig zu
werden. Aus diesen Erwägungen darf man die ersten Proben der neuen Wahl-
form in England nicht für entscheidend für deren Werth ansehen. Die dritte,
d. h. die diesjährigen Maiwahlen, war schon erheblich anderer Natur. Die Whigs
haben nur mit Unterstützung der Radicalen gesiegt und werden fortan auf
dieselben Rücksicht zu nehmen genöthigt sein. Ueberdies aber genießt in England
die Volksvertretung keineswegs ganz mehr die einstige Selbstherrlichkeit; denn
in wesentlichen Fragen hat sie sich in den letzten Jahren der Volksstimmung
anbequemen müssen, welche in der Presse sich ausspricht. Mit anderen Worten:
Wie die Krone nnr noch der Schatten von dem ist, was sie ehedem war, so
schreibt dort die öffentliche Meinung, von der man bei uns mehr redet und
schreibt als wahrnimmt, den Herren Gesetzgebern im Unterhause vielfach ihr
Thun und Lassen vor.

Schon längst hat es in England eine radicale Partei gegeben. Es ist die so¬
genannte Manchesterschule, zu deren Häuptern Cobden und Bright zählen, und die
man vielleicht richtiger als die amerikanische Schule bezeichnet. Diese Politiker be¬
trachten die nordamerikanische Union als Ideal und Musterstaat. Letztere galt bis
in die ersten sechziger Jahre noch als Anomalie, als Versuch, die wahre Freiheit
auf die Erde zu verpflanzen, ein Versuch, der nur bei dünn gesäeter Bevölke¬
rung und bei vollständigem Mangel an gefährlichen Nachbarn statthaft wäre,
und in Betreff dessen man die Prüfuugsstunde noch abzuwarten hätte. Diese
Prüfung schien mit dein großen Bürgerkriege gekommen zu sein, und siehe da,
als derselbe beendigt war, hatte die demokratische Staatsform ihre Lebensfähig¬
keit wenigstens für die jetzt lebende Generation dargethan. Die Folgen blieben
für England nicht aus; denn jetzt erhielt die amerikanische Schule unter seinen
Politikern Credit. Die erste Nachwirkung war die oben erwähnte Einführung
des allgemeinen Wahlrechts, die zweite ein starker Niedergang der Tory-Partei
und ihr Rücktritt von der Regierung. Die Königin berief zur Uebernahme der
letzteren ein Whig-Ministerium mit Gladstone an der Spitze, und dessen erster
Schritt war, sich mit John Bright, dem guten Freunde und Gesinnungsgenossen
Mazzinis, Louis Blancs und Kossuths, zu alliiren. Die nächste politische That
des neuen Premiers war die Entstaatlichung der irischen Kirche, die nicht bloß
eine Abschlagszahlung auf die Ansprüche der unruhigen Jrländer war, sondern
einen unleugbar amerikanischen Anstrich hatte, indem sie den Zweck verfolgte,
den Staat von jedem confessionellen Beigeschmacke zu befreien. Auch die eng¬
lische Hochkirche wird einmal aufhören, Staatskirche zu sein,'da was dem
irischen Katholiken recht ist, doch wohl auch den englischen Dissentern billig sein
wird, und da die unnatürlichen Rechte der Prälaten hier zwei mächtige Feinde,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/410>, abgerufen am 22.07.2024.