Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.erfüllte sich hiervon nichts. "Aus der Ferne betrachtet bestand," wie unsere Wollte man aus dem Ergebniß dieser Wahlschlacht schließen, daß das neue erfüllte sich hiervon nichts. „Aus der Ferne betrachtet bestand," wie unsere Wollte man aus dem Ergebniß dieser Wahlschlacht schließen, daß das neue <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146914"/> <p xml:id="ID_1190" prev="#ID_1189"> erfüllte sich hiervon nichts. „Aus der Ferne betrachtet bestand," wie unsere<lb/> Quelle sagt, „das Ergebniß vorläufig darin, daß Whigs und Tories einige Wahl¬<lb/> sitze verloren und andere gewannen, daß die ersteren mehr gewannen als ver¬<lb/> loren, das neue Wahlrecht aber wie der kreisende Berg eine Maus zum Lachen<lb/> geboren hatte. Unter den 658 Abgeordneten befanden sich nicht weniger als<lb/> 45 voraussichtliche Erben einer Peerswürde, 65 Söhne großer Adelsfamilien,<lb/> sowie 94 ihrer Blutsverwandten, endlich 65 Baronets oder jüngere Söhne von<lb/> solchen, also 267 aristokratische Häupter. Von dem Reste, der nicht ganz zwei<lb/> Drittel betrug, entfielen auf die Eisenbahndirectoren nicht weniger als 121 und<lb/> auf den Handelsstand 116 Stimmen. Die übrigen Plätze gehörten entweder<lb/> Juristen oder Glückskindern vom gestrigen Tage an, welche letzteren sich die<lb/> Parlamentswürde und damit ihren Reichthümern einen besseren Geruch zu er¬<lb/> kaufen Pflegen, weil ihnen sonst die Thüren der besseren Gesellschaft ver¬<lb/> schlossen bleiben würden. Staatsmänner von Beruf waren kaum vier Dutzend<lb/> darunter, zünftige Denker konnte man an den Fingern einer Hand herzählen<lb/> und die Arbeiter glänzten durch ihr völliges Nichtgesehenwerden." Die letzteren<lb/> hatten aber das zum Gewähltwerden unbedingt erforderliche Geld nicht besessen,<lb/> das sich nach Esquiros auf etwa 500 Pfd. Sterling oder 100000 Mark für<lb/> jede einzelne Wahl beläuft, auch wäre für sie ohne Diäten das Londoner<lb/> Pflaster zu theuer gewesen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1191" next="#ID_1192"> Wollte man aus dem Ergebniß dieser Wahlschlacht schließen, daß das neue<lb/> Wahlgesetz in alle Zukunft hinein nicht anders wirken werde als das frühere,<lb/> so wäre das ein Irrthum. Mit Recht sagt Krummel S. 358: „Das allgemeine<lb/> Wahlrecht hat sich auf dem Festlande bisher den herrschenden Staatsgewalten<lb/> und den conservativen Richtungen günstig gezeigt. Jede Einschränkung des<lb/> Rechtes, sei es durch eine Wahlschatzuug, sei es durch eine Wahlmännerwahl,<lb/> gab den städtischen Bevölkerungen und namentlich den besser unterrichteten<lb/> Klassen ein Uebergewicht, welches der Stümnenzahl nicht entsprach. Daher wird<lb/> das allgemeine Wahlrecht vielfach für unvereinbar mit dem Liberalismus ge¬<lb/> halten, und das ist richtig, nur fällt das, was liberal genannt wird, keineswegs<lb/> mit dem zusammen, was wahrhaft freisinnig ist. Liberal heißt in unserer<lb/> publicistischen Sprache nur das, was der städtischen Bevölkerung am meisten<lb/> zusagt, wäre es auch geradezu illiberal wie jede Beschränkung des Wahlrechts.<lb/> Wahrhaft freisinnig ist allein das allgemeine Wahlrecht, selbst dort, wo es vor¬<lb/> kommen könnte (und vorgekommen ist), daß die Landbevölkerung völlig in den<lb/> Händen einer Geistlichkeit wäre, die feindselig gegen die geistige Entwicklung des<lb/> Volkes aufträte. Möchte aber auch irgendwo die Landesbevölkerung an politischer<lb/> Reife hinter den Städtebewohnern zurückstehen, so erfordert dennoch die Ge¬<lb/> rechtigkeit, daß Reife und Unreife öffentlich vertreten werden, damit die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0409]
erfüllte sich hiervon nichts. „Aus der Ferne betrachtet bestand," wie unsere
Quelle sagt, „das Ergebniß vorläufig darin, daß Whigs und Tories einige Wahl¬
sitze verloren und andere gewannen, daß die ersteren mehr gewannen als ver¬
loren, das neue Wahlrecht aber wie der kreisende Berg eine Maus zum Lachen
geboren hatte. Unter den 658 Abgeordneten befanden sich nicht weniger als
45 voraussichtliche Erben einer Peerswürde, 65 Söhne großer Adelsfamilien,
sowie 94 ihrer Blutsverwandten, endlich 65 Baronets oder jüngere Söhne von
solchen, also 267 aristokratische Häupter. Von dem Reste, der nicht ganz zwei
Drittel betrug, entfielen auf die Eisenbahndirectoren nicht weniger als 121 und
auf den Handelsstand 116 Stimmen. Die übrigen Plätze gehörten entweder
Juristen oder Glückskindern vom gestrigen Tage an, welche letzteren sich die
Parlamentswürde und damit ihren Reichthümern einen besseren Geruch zu er¬
kaufen Pflegen, weil ihnen sonst die Thüren der besseren Gesellschaft ver¬
schlossen bleiben würden. Staatsmänner von Beruf waren kaum vier Dutzend
darunter, zünftige Denker konnte man an den Fingern einer Hand herzählen
und die Arbeiter glänzten durch ihr völliges Nichtgesehenwerden." Die letzteren
hatten aber das zum Gewähltwerden unbedingt erforderliche Geld nicht besessen,
das sich nach Esquiros auf etwa 500 Pfd. Sterling oder 100000 Mark für
jede einzelne Wahl beläuft, auch wäre für sie ohne Diäten das Londoner
Pflaster zu theuer gewesen.
Wollte man aus dem Ergebniß dieser Wahlschlacht schließen, daß das neue
Wahlgesetz in alle Zukunft hinein nicht anders wirken werde als das frühere,
so wäre das ein Irrthum. Mit Recht sagt Krummel S. 358: „Das allgemeine
Wahlrecht hat sich auf dem Festlande bisher den herrschenden Staatsgewalten
und den conservativen Richtungen günstig gezeigt. Jede Einschränkung des
Rechtes, sei es durch eine Wahlschatzuug, sei es durch eine Wahlmännerwahl,
gab den städtischen Bevölkerungen und namentlich den besser unterrichteten
Klassen ein Uebergewicht, welches der Stümnenzahl nicht entsprach. Daher wird
das allgemeine Wahlrecht vielfach für unvereinbar mit dem Liberalismus ge¬
halten, und das ist richtig, nur fällt das, was liberal genannt wird, keineswegs
mit dem zusammen, was wahrhaft freisinnig ist. Liberal heißt in unserer
publicistischen Sprache nur das, was der städtischen Bevölkerung am meisten
zusagt, wäre es auch geradezu illiberal wie jede Beschränkung des Wahlrechts.
Wahrhaft freisinnig ist allein das allgemeine Wahlrecht, selbst dort, wo es vor¬
kommen könnte (und vorgekommen ist), daß die Landbevölkerung völlig in den
Händen einer Geistlichkeit wäre, die feindselig gegen die geistige Entwicklung des
Volkes aufträte. Möchte aber auch irgendwo die Landesbevölkerung an politischer
Reife hinter den Städtebewohnern zurückstehen, so erfordert dennoch die Ge¬
rechtigkeit, daß Reife und Unreife öffentlich vertreten werden, damit die
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