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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Parteien hat sich jedoch schon seit geraumer Zeit fast ganz verloren, wenigstens
haben auch die Tones liberale Maßregeln und Gesetze vorgeschlagen und zu
Stande gebracht, und in der Hauptsache kann man Krümmels "Europäi¬
scher Staatenkunde" (Leipzig, Duncker Humblot, 1880), der ein Theil des
Nachstehenden auszugsweise entnommen ist, beipflichten, wenn sie jene beiden Par¬
teien S. 354 als "aristokratische Gevatterschaften, oligarchische Banden unter
parlamentarischen Häuptlingen" bezeichnet. Bis zum Jahre 1830 hatten ein
volles halbes Jahrhundert hindurch nur die Tories die Ministerien geliefert.
Dann folgte eine Zeit, wo bald sie, bald die Whigs sich in die obersten Aemter
und Würden theilten, weil bald diese, bald jene bei den Wahlen für das Par-
lament die meisten Stimmen gewonnen hatten. 1868 räumten die Tories den
Whigs den Platz am Staatsruder, von 1874 an traten jene wieder die Regie¬
rung an, und im April d. Is. bekamen die Whigs bekanntlich wieder das Heft
in die Hände.

Die Mitglieder des Unterhauses werden von den Grafschaften, den Städten
und den Universitäten gewählt. Ein förmliches Wahlrecht giebt es nicht, fon¬
dern nur Wahlgerechtsame, die das Parlament den Städten und Landgemeinden
verleihen oder entziehen kann. Nicht die Bevölkerung nach ihrer Kopfzahl oder
ihrer Besteuerung, sondern die Bewohner dieses oder jenes Landestheils sind
mit dem Rechte zu wählen begünstigt, und die Gesetze, welche diese Gunst ge¬
währen, entspringen immer einem Abkommen zwischen den Altberechtigten. Vor
1867 gab es in Großbritannien nur IV" Millionen Wähler, und in jeder
Wahlgemeinde war der Einfluß der Stimmen anders bemessen. Diese Ungleich¬
heit war geradezu empörend; denn obscure Landstädtchen, faule Bnrgflecken,
deren es besonders im landwirthschaftlichen Südosten viele gab, übten mehr
Rechte aus als Capitälen und Metropolen. England hatte vor nicht langer
Zeit zwei Wahlkörper, die mehr als fünftausend Wähler umfaßten und doch
nur über einen einzigen Sitz im Hause der Gemeinen verfügten; 59 hatten
weniger Stimmen als fünfhundert, einer nur 106. In letzterem, Pontarlington,
übte jeder Wähler vermöge feiner Stimme 44 Mal so viel Einfluß auf die
Gesetzgebung und Regierung des Landes, als wenn er in Edinburgh, 83 Mal
so viel, als wenn er in der Londoner City, 103 Mal so viel, als wenn er in
Manchester und 190 Mal so viel, als wenn er im West Riding von Jork ab¬
zustimmen berufen gewesen wäre. Dieser Unfug ist, wie angedeutet, vor zwei
oder drei Jahrzehnten beseitigt worden. Fragte man vorher nach der Ursache,
weshalb das nicht schon längst geschehen, so erhielt man die kühle Antwort: es
sei eben Herkommen und werde bleiben, bis ein Gesetz es ändere.

Bei allen Umgestaltungen des Wahlgesetzes lag den Leitern der beiden
großen Parteilager, wie Krummel nachweist, nicht so sehr daran, einen modernen


Parteien hat sich jedoch schon seit geraumer Zeit fast ganz verloren, wenigstens
haben auch die Tones liberale Maßregeln und Gesetze vorgeschlagen und zu
Stande gebracht, und in der Hauptsache kann man Krümmels „Europäi¬
scher Staatenkunde" (Leipzig, Duncker Humblot, 1880), der ein Theil des
Nachstehenden auszugsweise entnommen ist, beipflichten, wenn sie jene beiden Par¬
teien S. 354 als „aristokratische Gevatterschaften, oligarchische Banden unter
parlamentarischen Häuptlingen" bezeichnet. Bis zum Jahre 1830 hatten ein
volles halbes Jahrhundert hindurch nur die Tories die Ministerien geliefert.
Dann folgte eine Zeit, wo bald sie, bald die Whigs sich in die obersten Aemter
und Würden theilten, weil bald diese, bald jene bei den Wahlen für das Par-
lament die meisten Stimmen gewonnen hatten. 1868 räumten die Tories den
Whigs den Platz am Staatsruder, von 1874 an traten jene wieder die Regie¬
rung an, und im April d. Is. bekamen die Whigs bekanntlich wieder das Heft
in die Hände.

Die Mitglieder des Unterhauses werden von den Grafschaften, den Städten
und den Universitäten gewählt. Ein förmliches Wahlrecht giebt es nicht, fon¬
dern nur Wahlgerechtsame, die das Parlament den Städten und Landgemeinden
verleihen oder entziehen kann. Nicht die Bevölkerung nach ihrer Kopfzahl oder
ihrer Besteuerung, sondern die Bewohner dieses oder jenes Landestheils sind
mit dem Rechte zu wählen begünstigt, und die Gesetze, welche diese Gunst ge¬
währen, entspringen immer einem Abkommen zwischen den Altberechtigten. Vor
1867 gab es in Großbritannien nur IV» Millionen Wähler, und in jeder
Wahlgemeinde war der Einfluß der Stimmen anders bemessen. Diese Ungleich¬
heit war geradezu empörend; denn obscure Landstädtchen, faule Bnrgflecken,
deren es besonders im landwirthschaftlichen Südosten viele gab, übten mehr
Rechte aus als Capitälen und Metropolen. England hatte vor nicht langer
Zeit zwei Wahlkörper, die mehr als fünftausend Wähler umfaßten und doch
nur über einen einzigen Sitz im Hause der Gemeinen verfügten; 59 hatten
weniger Stimmen als fünfhundert, einer nur 106. In letzterem, Pontarlington,
übte jeder Wähler vermöge feiner Stimme 44 Mal so viel Einfluß auf die
Gesetzgebung und Regierung des Landes, als wenn er in Edinburgh, 83 Mal
so viel, als wenn er in der Londoner City, 103 Mal so viel, als wenn er in
Manchester und 190 Mal so viel, als wenn er im West Riding von Jork ab¬
zustimmen berufen gewesen wäre. Dieser Unfug ist, wie angedeutet, vor zwei
oder drei Jahrzehnten beseitigt worden. Fragte man vorher nach der Ursache,
weshalb das nicht schon längst geschehen, so erhielt man die kühle Antwort: es
sei eben Herkommen und werde bleiben, bis ein Gesetz es ändere.

Bei allen Umgestaltungen des Wahlgesetzes lag den Leitern der beiden
großen Parteilager, wie Krummel nachweist, nicht so sehr daran, einen modernen


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[0407] Parteien hat sich jedoch schon seit geraumer Zeit fast ganz verloren, wenigstens haben auch die Tones liberale Maßregeln und Gesetze vorgeschlagen und zu Stande gebracht, und in der Hauptsache kann man Krümmels „Europäi¬ scher Staatenkunde" (Leipzig, Duncker Humblot, 1880), der ein Theil des Nachstehenden auszugsweise entnommen ist, beipflichten, wenn sie jene beiden Par¬ teien S. 354 als „aristokratische Gevatterschaften, oligarchische Banden unter parlamentarischen Häuptlingen" bezeichnet. Bis zum Jahre 1830 hatten ein volles halbes Jahrhundert hindurch nur die Tories die Ministerien geliefert. Dann folgte eine Zeit, wo bald sie, bald die Whigs sich in die obersten Aemter und Würden theilten, weil bald diese, bald jene bei den Wahlen für das Par- lament die meisten Stimmen gewonnen hatten. 1868 räumten die Tories den Whigs den Platz am Staatsruder, von 1874 an traten jene wieder die Regie¬ rung an, und im April d. Is. bekamen die Whigs bekanntlich wieder das Heft in die Hände. Die Mitglieder des Unterhauses werden von den Grafschaften, den Städten und den Universitäten gewählt. Ein förmliches Wahlrecht giebt es nicht, fon¬ dern nur Wahlgerechtsame, die das Parlament den Städten und Landgemeinden verleihen oder entziehen kann. Nicht die Bevölkerung nach ihrer Kopfzahl oder ihrer Besteuerung, sondern die Bewohner dieses oder jenes Landestheils sind mit dem Rechte zu wählen begünstigt, und die Gesetze, welche diese Gunst ge¬ währen, entspringen immer einem Abkommen zwischen den Altberechtigten. Vor 1867 gab es in Großbritannien nur IV» Millionen Wähler, und in jeder Wahlgemeinde war der Einfluß der Stimmen anders bemessen. Diese Ungleich¬ heit war geradezu empörend; denn obscure Landstädtchen, faule Bnrgflecken, deren es besonders im landwirthschaftlichen Südosten viele gab, übten mehr Rechte aus als Capitälen und Metropolen. England hatte vor nicht langer Zeit zwei Wahlkörper, die mehr als fünftausend Wähler umfaßten und doch nur über einen einzigen Sitz im Hause der Gemeinen verfügten; 59 hatten weniger Stimmen als fünfhundert, einer nur 106. In letzterem, Pontarlington, übte jeder Wähler vermöge feiner Stimme 44 Mal so viel Einfluß auf die Gesetzgebung und Regierung des Landes, als wenn er in Edinburgh, 83 Mal so viel, als wenn er in der Londoner City, 103 Mal so viel, als wenn er in Manchester und 190 Mal so viel, als wenn er im West Riding von Jork ab¬ zustimmen berufen gewesen wäre. Dieser Unfug ist, wie angedeutet, vor zwei oder drei Jahrzehnten beseitigt worden. Fragte man vorher nach der Ursache, weshalb das nicht schon längst geschehen, so erhielt man die kühle Antwort: es sei eben Herkommen und werde bleiben, bis ein Gesetz es ändere. Bei allen Umgestaltungen des Wahlgesetzes lag den Leitern der beiden großen Parteilager, wie Krummel nachweist, nicht so sehr daran, einen modernen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/407>, abgerufen am 22.07.2024.