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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Zum Verständniß der Lage in England.
i.

Es gab eine Zeit, wo unsere Staatsmänner sich in den Einrichtungen, die
sie zu schaffen bemüht waren, England zum Muster nahmen und ihrer Regie¬
rungsweise die brittische Geschichte zur Lehrmeisterin wählten. Seitdem hat
man erkannt, daß sich zwar auf diesem Wege manches Gute lernen läßt, daß
aber andererseits auch hier das Wort gilt, nach welchem Eines sich nicht für
Alle schickt, daß auch in England die Verfassung, das parlamentarische Leben
und das Parteiwesen große Mängel zeigen, und daß es namentlich nach dem
Ausfall der letzten Wahlen und in der Zusammensetzung des neuen Ministeriums
den Anschein gewinnt, als ob in der Stimmung und Anschauung eines großen
Theils des englischen Volkes der Radicalismus bedenkliche Fortschritte ge¬
macht habe.

Wenn England sich rascher und vollständiger als die Nationen des Conti-
nents die Segnungen bürgerlicher Freiheit erworben hat, so liegt die Ursache
davon gewiß zum Theil im Charakter des brittischen Volkes, aber ebenso und
vielleicht noch mehr in geographischen Verhältnissen. Das brittische Reich ist
ein Inselreich, und solche Reiche sind, vorausgesetzt, daß sie ihre Küstenlinien
durch eine tüchtige Kriegsflotte vertheidigen können, wozu ihnen ihre insulare
Lage wiederum vorzügliche Elemente liefert, besser zur Vertheidigung ihrer Un¬
abhängigkeit gegenüber ehrgeizigen und eroberungssüchtigen Nachbarn befähigt
als festländische Staaten. Diese müssen, da jene Unabhängigkeit, jene Freiheit
nach außen hin die oberste politische Forderung für jedes Volk und die Vor¬
aussetzung auch der wahren inneren Freiheit ist, wenn wir uns nicht auf den
vaterlandslosen Standpunkt der Kosmopoliten stellen, nothgedrungen große
stehende Heere halten. Diese aber bedingen starke Anspannung der Steuerkräfte,
straffe Verwaltung und möglichst wenig behinderte Bewegung der obersten Staats¬
gewalt, lauter Dinge, die sich mit der Selbstregierung nicht gut in Einklang
bringen lassen. Ueberdies aber giebt die allgemeine Wehrpflicht, mit der gegen-


Grenzbyten n. 1880. öl
Zum Verständniß der Lage in England.
i.

Es gab eine Zeit, wo unsere Staatsmänner sich in den Einrichtungen, die
sie zu schaffen bemüht waren, England zum Muster nahmen und ihrer Regie¬
rungsweise die brittische Geschichte zur Lehrmeisterin wählten. Seitdem hat
man erkannt, daß sich zwar auf diesem Wege manches Gute lernen läßt, daß
aber andererseits auch hier das Wort gilt, nach welchem Eines sich nicht für
Alle schickt, daß auch in England die Verfassung, das parlamentarische Leben
und das Parteiwesen große Mängel zeigen, und daß es namentlich nach dem
Ausfall der letzten Wahlen und in der Zusammensetzung des neuen Ministeriums
den Anschein gewinnt, als ob in der Stimmung und Anschauung eines großen
Theils des englischen Volkes der Radicalismus bedenkliche Fortschritte ge¬
macht habe.

Wenn England sich rascher und vollständiger als die Nationen des Conti-
nents die Segnungen bürgerlicher Freiheit erworben hat, so liegt die Ursache
davon gewiß zum Theil im Charakter des brittischen Volkes, aber ebenso und
vielleicht noch mehr in geographischen Verhältnissen. Das brittische Reich ist
ein Inselreich, und solche Reiche sind, vorausgesetzt, daß sie ihre Küstenlinien
durch eine tüchtige Kriegsflotte vertheidigen können, wozu ihnen ihre insulare
Lage wiederum vorzügliche Elemente liefert, besser zur Vertheidigung ihrer Un¬
abhängigkeit gegenüber ehrgeizigen und eroberungssüchtigen Nachbarn befähigt
als festländische Staaten. Diese müssen, da jene Unabhängigkeit, jene Freiheit
nach außen hin die oberste politische Forderung für jedes Volk und die Vor¬
aussetzung auch der wahren inneren Freiheit ist, wenn wir uns nicht auf den
vaterlandslosen Standpunkt der Kosmopoliten stellen, nothgedrungen große
stehende Heere halten. Diese aber bedingen starke Anspannung der Steuerkräfte,
straffe Verwaltung und möglichst wenig behinderte Bewegung der obersten Staats¬
gewalt, lauter Dinge, die sich mit der Selbstregierung nicht gut in Einklang
bringen lassen. Ueberdies aber giebt die allgemeine Wehrpflicht, mit der gegen-


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[0405] Zum Verständniß der Lage in England. i. Es gab eine Zeit, wo unsere Staatsmänner sich in den Einrichtungen, die sie zu schaffen bemüht waren, England zum Muster nahmen und ihrer Regie¬ rungsweise die brittische Geschichte zur Lehrmeisterin wählten. Seitdem hat man erkannt, daß sich zwar auf diesem Wege manches Gute lernen läßt, daß aber andererseits auch hier das Wort gilt, nach welchem Eines sich nicht für Alle schickt, daß auch in England die Verfassung, das parlamentarische Leben und das Parteiwesen große Mängel zeigen, und daß es namentlich nach dem Ausfall der letzten Wahlen und in der Zusammensetzung des neuen Ministeriums den Anschein gewinnt, als ob in der Stimmung und Anschauung eines großen Theils des englischen Volkes der Radicalismus bedenkliche Fortschritte ge¬ macht habe. Wenn England sich rascher und vollständiger als die Nationen des Conti- nents die Segnungen bürgerlicher Freiheit erworben hat, so liegt die Ursache davon gewiß zum Theil im Charakter des brittischen Volkes, aber ebenso und vielleicht noch mehr in geographischen Verhältnissen. Das brittische Reich ist ein Inselreich, und solche Reiche sind, vorausgesetzt, daß sie ihre Küstenlinien durch eine tüchtige Kriegsflotte vertheidigen können, wozu ihnen ihre insulare Lage wiederum vorzügliche Elemente liefert, besser zur Vertheidigung ihrer Un¬ abhängigkeit gegenüber ehrgeizigen und eroberungssüchtigen Nachbarn befähigt als festländische Staaten. Diese müssen, da jene Unabhängigkeit, jene Freiheit nach außen hin die oberste politische Forderung für jedes Volk und die Vor¬ aussetzung auch der wahren inneren Freiheit ist, wenn wir uns nicht auf den vaterlandslosen Standpunkt der Kosmopoliten stellen, nothgedrungen große stehende Heere halten. Diese aber bedingen starke Anspannung der Steuerkräfte, straffe Verwaltung und möglichst wenig behinderte Bewegung der obersten Staats¬ gewalt, lauter Dinge, die sich mit der Selbstregierung nicht gut in Einklang bringen lassen. Ueberdies aber giebt die allgemeine Wehrpflicht, mit der gegen- Grenzbyten n. 1880. öl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/405>, abgerufen am 22.07.2024.