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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Port von Truppen an die Amurmttndung, und andere sind zur Blokade der
chinesischen Küsten bestimmt. Auf die Nachricht hin, daß das in Peking über
den ehemaligen chinesischen Gesandten Tschang Hao wegen Ueberschreitung seiner
Befugnisse bei den Verhandlungen über Kuldschci verhängte Todesurtheil, trotz
der Vorstellungen der russischen Legation, denen sich die anderen Gesandtschaften
angeschlossen, bestätigt worden sei, hat die russische Regierung den Beschluß
gefaßt, ihren Geschäftsträger aus der chinesischen Hauptstadt abzuberufen und
ihre in China befindlichen Unterthanen unter den Schutz des Gesandten der
Vereinigten Staaten zu stellen. So folgten sich in den letzten beiden Wochen
die Nachrichten in den Zeitungen auf dem Fuße. Ein Kampf Rußlands mit
dem Kaiser in Ostasien ist deshalb nicht unwahrscheinlich, das Streitobject
aber würde jenes wenig bekannte Kuldscha sein.

Kein gesitteter Staat verträgt auf die Dauer einen Zustand, wo er zur
Bewachung seiner Grenzen gegen räuberische Nachbarn gezwungen ist. Darin
lag der Grund der immer weiter gehenden Annexionen innerasiatischer Gebiete
an Rußland. Es war nicht freier Wille, nicht Eroberungstrieb, sondern die
Nothwendigkeit, den Raubzügen der Turkmenen und Oesbegen ein Ziel zu setzen,
wenn Rußland in den Chcmaten Chiwa, Bochara und Kokan Krieg führte und
eine große Eroberung nach der anderen machte.

Nicht so wichtig wie dieses Anwachsen des russischen Reiches in Central-
asien, aber immerhin von nicht geringer Bedeutung für die Zukunft sind die
Gebietserweiterungen, welche die Petersburger Politik im fernsten Südosten des
Welttheils auf Kosten des himmlischen Reichs vorgenommen hat. Hier war
als Grenze zwischen Nußland und China in: Traktat von 1727 der Argun,
ein Nebenfluß des Amur, und weiterhin die nördliche Wasserscheide des Amur¬
thales, d. h. der Kamm des Jablonoi- und Stanowoi - Gebirges angenommen
worden. Aber in den Jahren 1850 und 1851 überschritten die Russen diese
Linien. Nachdem Nikolai Murawiew die Mündung des Amur untersucht und
dort die Stadt Nikolajewsk gegründet, wurde -- angeblich ohne Widerspruch
der Chinesen -- alles Land im Norden des genannten Stromes sowie ein
breiter Streif der Küste am japanischen Golfe von den Russe" besetzt, die darauf
am Amur die Stadt Blagowjeschtschensk und an der Bai Peters des Großen
die Stadt Wladiwostok erbauten. Damit aber sind dieselben nun nicht weiter
mehr von Peking entfernt als dieses von Nanking, und sie stehen nun schon
seit mehreren Jahrzehnten an der Schwelle des Gebietes, von dem aus die
Mandschu, die letzten Eroberer des himmlischen Reiches, einst ihren Siegeszug
begannen.

Wieder anders steht es mit der chinesischen Provinz Kuldscha am oberen
Ili, die der Gothaische Hofkalender regelmäßig, dagegen Schwanebachs "Statistische


Grenzboten II. 1880. SV

Port von Truppen an die Amurmttndung, und andere sind zur Blokade der
chinesischen Küsten bestimmt. Auf die Nachricht hin, daß das in Peking über
den ehemaligen chinesischen Gesandten Tschang Hao wegen Ueberschreitung seiner
Befugnisse bei den Verhandlungen über Kuldschci verhängte Todesurtheil, trotz
der Vorstellungen der russischen Legation, denen sich die anderen Gesandtschaften
angeschlossen, bestätigt worden sei, hat die russische Regierung den Beschluß
gefaßt, ihren Geschäftsträger aus der chinesischen Hauptstadt abzuberufen und
ihre in China befindlichen Unterthanen unter den Schutz des Gesandten der
Vereinigten Staaten zu stellen. So folgten sich in den letzten beiden Wochen
die Nachrichten in den Zeitungen auf dem Fuße. Ein Kampf Rußlands mit
dem Kaiser in Ostasien ist deshalb nicht unwahrscheinlich, das Streitobject
aber würde jenes wenig bekannte Kuldscha sein.

Kein gesitteter Staat verträgt auf die Dauer einen Zustand, wo er zur
Bewachung seiner Grenzen gegen räuberische Nachbarn gezwungen ist. Darin
lag der Grund der immer weiter gehenden Annexionen innerasiatischer Gebiete
an Rußland. Es war nicht freier Wille, nicht Eroberungstrieb, sondern die
Nothwendigkeit, den Raubzügen der Turkmenen und Oesbegen ein Ziel zu setzen,
wenn Rußland in den Chcmaten Chiwa, Bochara und Kokan Krieg führte und
eine große Eroberung nach der anderen machte.

Nicht so wichtig wie dieses Anwachsen des russischen Reiches in Central-
asien, aber immerhin von nicht geringer Bedeutung für die Zukunft sind die
Gebietserweiterungen, welche die Petersburger Politik im fernsten Südosten des
Welttheils auf Kosten des himmlischen Reichs vorgenommen hat. Hier war
als Grenze zwischen Nußland und China in: Traktat von 1727 der Argun,
ein Nebenfluß des Amur, und weiterhin die nördliche Wasserscheide des Amur¬
thales, d. h. der Kamm des Jablonoi- und Stanowoi - Gebirges angenommen
worden. Aber in den Jahren 1850 und 1851 überschritten die Russen diese
Linien. Nachdem Nikolai Murawiew die Mündung des Amur untersucht und
dort die Stadt Nikolajewsk gegründet, wurde — angeblich ohne Widerspruch
der Chinesen — alles Land im Norden des genannten Stromes sowie ein
breiter Streif der Küste am japanischen Golfe von den Russe» besetzt, die darauf
am Amur die Stadt Blagowjeschtschensk und an der Bai Peters des Großen
die Stadt Wladiwostok erbauten. Damit aber sind dieselben nun nicht weiter
mehr von Peking entfernt als dieses von Nanking, und sie stehen nun schon
seit mehreren Jahrzehnten an der Schwelle des Gebietes, von dem aus die
Mandschu, die letzten Eroberer des himmlischen Reiches, einst ihren Siegeszug
begannen.

Wieder anders steht es mit der chinesischen Provinz Kuldscha am oberen
Ili, die der Gothaische Hofkalender regelmäßig, dagegen Schwanebachs „Statistische


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[0397] Port von Truppen an die Amurmttndung, und andere sind zur Blokade der chinesischen Küsten bestimmt. Auf die Nachricht hin, daß das in Peking über den ehemaligen chinesischen Gesandten Tschang Hao wegen Ueberschreitung seiner Befugnisse bei den Verhandlungen über Kuldschci verhängte Todesurtheil, trotz der Vorstellungen der russischen Legation, denen sich die anderen Gesandtschaften angeschlossen, bestätigt worden sei, hat die russische Regierung den Beschluß gefaßt, ihren Geschäftsträger aus der chinesischen Hauptstadt abzuberufen und ihre in China befindlichen Unterthanen unter den Schutz des Gesandten der Vereinigten Staaten zu stellen. So folgten sich in den letzten beiden Wochen die Nachrichten in den Zeitungen auf dem Fuße. Ein Kampf Rußlands mit dem Kaiser in Ostasien ist deshalb nicht unwahrscheinlich, das Streitobject aber würde jenes wenig bekannte Kuldscha sein. Kein gesitteter Staat verträgt auf die Dauer einen Zustand, wo er zur Bewachung seiner Grenzen gegen räuberische Nachbarn gezwungen ist. Darin lag der Grund der immer weiter gehenden Annexionen innerasiatischer Gebiete an Rußland. Es war nicht freier Wille, nicht Eroberungstrieb, sondern die Nothwendigkeit, den Raubzügen der Turkmenen und Oesbegen ein Ziel zu setzen, wenn Rußland in den Chcmaten Chiwa, Bochara und Kokan Krieg führte und eine große Eroberung nach der anderen machte. Nicht so wichtig wie dieses Anwachsen des russischen Reiches in Central- asien, aber immerhin von nicht geringer Bedeutung für die Zukunft sind die Gebietserweiterungen, welche die Petersburger Politik im fernsten Südosten des Welttheils auf Kosten des himmlischen Reichs vorgenommen hat. Hier war als Grenze zwischen Nußland und China in: Traktat von 1727 der Argun, ein Nebenfluß des Amur, und weiterhin die nördliche Wasserscheide des Amur¬ thales, d. h. der Kamm des Jablonoi- und Stanowoi - Gebirges angenommen worden. Aber in den Jahren 1850 und 1851 überschritten die Russen diese Linien. Nachdem Nikolai Murawiew die Mündung des Amur untersucht und dort die Stadt Nikolajewsk gegründet, wurde — angeblich ohne Widerspruch der Chinesen — alles Land im Norden des genannten Stromes sowie ein breiter Streif der Küste am japanischen Golfe von den Russe» besetzt, die darauf am Amur die Stadt Blagowjeschtschensk und an der Bai Peters des Großen die Stadt Wladiwostok erbauten. Damit aber sind dieselben nun nicht weiter mehr von Peking entfernt als dieses von Nanking, und sie stehen nun schon seit mehreren Jahrzehnten an der Schwelle des Gebietes, von dem aus die Mandschu, die letzten Eroberer des himmlischen Reiches, einst ihren Siegeszug begannen. Wieder anders steht es mit der chinesischen Provinz Kuldscha am oberen Ili, die der Gothaische Hofkalender regelmäßig, dagegen Schwanebachs „Statistische Grenzboten II. 1880. SV

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/397>, abgerufen am 22.07.2024.