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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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gungsloser alter Herr oder eine Schülerschwester, die vielleicht für den Freund
des Bruders eine stille Neigung im Herzen trägt. Das Ganze würde zu einem
Privatvergnügen des Lehrer-Collegiums werden, wenn ein dreitägiges unthätiges
Ornamentsitzen -- tairo taxisssriö nennt's der Franzose -- nicht vielmehr eine
abstumpfende Tortur wäre. Will die Behörde, der Rector der Schule oder wollen
die Collegen unter einander die Leistungen der einzelnen Klassen kennen lernen,
so haben sie dazu durch Hospitiren im Laufe des Schuljahres, wo sie den Un¬
terricht in vollem Zuge sehen, hinreichende Gelegenheit; die öffentlichen Prüfungen
aber sind nichts als eine fatale Comödie und eine arge Zeitverschwendung. An
einzelnen Gymnasien hat man denn auch angefangen, das Verfahren abzukürzen.
Anstatt der üblichen zwei Unterrichtsgegenstände, die in jeder Klasse vorgeführt
zu werden Pflegen, hat man sich auf einen beschränkt, anstatt der vollen Stunde,
die früher jedem Gegenstande gewidmet wurde, ist mau auf dreiviertel, ja selbst
auf eine halbe Stunde zurückgegangen. An anderen Anstalten hat man diese
Reduction wenigstens an den oberen Klassen eintreten lassen. Dürfte man doch
solche Beschränkungen nur als das natürliche Uebergangsstadium zu gänzlicher
Abschaffung betrachten!

Mit den mündlichen Maturitätsprüfungen hat es insofern eine etwas andere
Vewandniß, als diese nicht öffentlich abgehalten werden. Sie find nicht für
das Publikum, sondern für die "Prüfungseommission" da, die freilich aus weiter
niemand besteht, als aus den Lehrern, deren Unterricht die Abiturienten genossen
haben, und aus dem Regierungscommissär, der, da er unmöglich an allen unter
seiner Aussicht stehenden Gymnasien gleichzeitig der Prüfung beiwohnen kann,
oft genug durch den Rector der Schule, also immer wieder durch einen Lehrer
der Abiturienten vertreten sein wird. Einen Zweck aber erfüllen diese Prü¬
fungen womöglich noch weniger, als die öffentlichen Prüfungen der Klassen.
Bei den letzteren soll gezeigt werden, was im Unterrichte getrieben worden ist,
und was eine Klasse als Ganzes erreicht hat; was der eine nicht weiß, weiß
der andere, auf deu Totaleindruck kommt es an. Bei den Maturitätsprüfuugeu
wird der Einzelne vorgeführt, um auf Grund seiner Leistungen -- censirt zu
werden. Daß das ein Ding der Unmöglichkeit ist, weiß jeder Lehrer. Aus
einer zehn- bis fünfzehnzeiligen Uebersetzungsprobe aus einem griechischen oder
lateinischen Schriftsteller, aus einen: Dutzend richtiger oder falscher Antworten
aus einer bestimmten, vielleicht engumgränzten Periode der Geschichte ist auf
die wirklichen Leistungen des Abiturienten im Griechischen, Lateinischen und in der
Geschichte natürlich nichts zu schließen. Es füllt auch niemandem ein, auf diese
geringfügigen Anhaltepunkte irgend etwas zu geben; jeder sagt sich, daß tausen¬
derlei Zufälligkeiten hier die Hand im Spiele haben. Wenn der, der seit Jahren
dem Lehrer als träge und unwissend bekannt ist, Glück hat, so wird ihm das
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Grenzboten II. 1830. 5

gungsloser alter Herr oder eine Schülerschwester, die vielleicht für den Freund
des Bruders eine stille Neigung im Herzen trägt. Das Ganze würde zu einem
Privatvergnügen des Lehrer-Collegiums werden, wenn ein dreitägiges unthätiges
Ornamentsitzen — tairo taxisssriö nennt's der Franzose — nicht vielmehr eine
abstumpfende Tortur wäre. Will die Behörde, der Rector der Schule oder wollen
die Collegen unter einander die Leistungen der einzelnen Klassen kennen lernen,
so haben sie dazu durch Hospitiren im Laufe des Schuljahres, wo sie den Un¬
terricht in vollem Zuge sehen, hinreichende Gelegenheit; die öffentlichen Prüfungen
aber sind nichts als eine fatale Comödie und eine arge Zeitverschwendung. An
einzelnen Gymnasien hat man denn auch angefangen, das Verfahren abzukürzen.
Anstatt der üblichen zwei Unterrichtsgegenstände, die in jeder Klasse vorgeführt
zu werden Pflegen, hat man sich auf einen beschränkt, anstatt der vollen Stunde,
die früher jedem Gegenstande gewidmet wurde, ist mau auf dreiviertel, ja selbst
auf eine halbe Stunde zurückgegangen. An anderen Anstalten hat man diese
Reduction wenigstens an den oberen Klassen eintreten lassen. Dürfte man doch
solche Beschränkungen nur als das natürliche Uebergangsstadium zu gänzlicher
Abschaffung betrachten!

Mit den mündlichen Maturitätsprüfungen hat es insofern eine etwas andere
Vewandniß, als diese nicht öffentlich abgehalten werden. Sie find nicht für
das Publikum, sondern für die „Prüfungseommission" da, die freilich aus weiter
niemand besteht, als aus den Lehrern, deren Unterricht die Abiturienten genossen
haben, und aus dem Regierungscommissär, der, da er unmöglich an allen unter
seiner Aussicht stehenden Gymnasien gleichzeitig der Prüfung beiwohnen kann,
oft genug durch den Rector der Schule, also immer wieder durch einen Lehrer
der Abiturienten vertreten sein wird. Einen Zweck aber erfüllen diese Prü¬
fungen womöglich noch weniger, als die öffentlichen Prüfungen der Klassen.
Bei den letzteren soll gezeigt werden, was im Unterrichte getrieben worden ist,
und was eine Klasse als Ganzes erreicht hat; was der eine nicht weiß, weiß
der andere, auf deu Totaleindruck kommt es an. Bei den Maturitätsprüfuugeu
wird der Einzelne vorgeführt, um auf Grund seiner Leistungen — censirt zu
werden. Daß das ein Ding der Unmöglichkeit ist, weiß jeder Lehrer. Aus
einer zehn- bis fünfzehnzeiligen Uebersetzungsprobe aus einem griechischen oder
lateinischen Schriftsteller, aus einen: Dutzend richtiger oder falscher Antworten
aus einer bestimmten, vielleicht engumgränzten Periode der Geschichte ist auf
die wirklichen Leistungen des Abiturienten im Griechischen, Lateinischen und in der
Geschichte natürlich nichts zu schließen. Es füllt auch niemandem ein, auf diese
geringfügigen Anhaltepunkte irgend etwas zu geben; jeder sagt sich, daß tausen¬
derlei Zufälligkeiten hier die Hand im Spiele haben. Wenn der, der seit Jahren
dem Lehrer als träge und unwissend bekannt ist, Glück hat, so wird ihm das
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Grenzboten II. 1830. 5
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/37>, abgerufen am 22.07.2024.