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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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land ist bis ins Mark gothisch geblieben. Wie in seinen Schriftzeichen, so in
seinem Geschmack, seinen Sitten, seiner Gesetzgebung ist es das am meisten
zurückgebliebene (attarclü) Land in Europa. Die Verwaltung und Gesetzgebung
in Elsaß-Lothringen ist deshalb nichts als ein Versuch, das Land zu "gothisiren".

2. Deutschland fühlte natürlich das Bedürfniß, eine einheitliche Rechtspflege
an die Stelle des bunten Wirrwarrs von Rechtsordnungen zu setzen. Der
blinde Haß gegen alles Französische verhinderte es, die schon in den Rhein¬
landen so trefflich bewährte französische Gerichtsordnung zum Muster zu nehmen.
Lieber kehrte man zu den Capitularien Karls des Großen, zu dein Sachsen- und
Schwabenspiegel zurück. So erklärt sich die Einrichtung der Amts- und Schöffen¬
gerichte, eine abgeschmackte Reminiscenz des karolingischen Rechtes. Die Beförde¬
rung der Vorladungen durch die Post, die Wandersitzungen der Schöffengerichte
sind Dinge, die man seit Jahrhunderten nur noch in Operetten gesehen hat.
Schlimmer ist es, daß der Zeugenbeweis jedem anderen voransteht, was in
Frankreich schon seit dem 16. Jahrhundert abgeschafft ist. Daß Realpfänder
die einzige Sicherung der Verträge bilden, ist einfach ein Rückfall in das rudi¬
mentäre Rechtswesen, welches die Einfälle der Barbaren an die Stelle des
römischen gesetzt hatten, im Grunde nnr eine Anwendung der Grundsätze: Ls-M
xossiäontW und "Gewalt geht vor Recht", die beide durch und durch germanisch
sind. Mündliche oder schriftliche Versprechungen schätzt der Deutsche genug --
sollen wir an den Artikel 5 des Prager Friedens erinnern? -- und hält nnr
das für sicher, was er in der Faust hat. Man würde nie zu Ende kommen,
wollte man alle Schattenseiten der neuen Gerichtsordnung, zumal für Elsaß-
Lothringen, aufzählen. Die große Zahl der Gerichtshöfe wird die Proceßsucht
vermehren. Die Notare, bisher die berufenen Rathgeber und Vertrauten der
Familien, haben ihre einflußreiche Stellung verloren. Die Nachsuchenden werden
jetzt den Mindestfordernden, Leuten ohne Erfahrung und Moralität, in die
Hände fallen, und bei der Dunkelheiten und Zweideutigkeiten begünstigenden
deutschen Sprache, der Zulassung einer dreifachen Appellation und dem voll¬
ständigen Verschwinden einer festgegründeten und klar umschriebenen Rechtspflege
wird die geringste Frage für die Schlechten eine unversiegbare Quelle von
Rechtsstreitigkeiten werden. Die heilsame Rolle des öffentlichen Ministeriums
existirt nicht mehr, da die Parteien selbst plaidiren; die Competeuzfragen sind
äußerst verwickelt, die Symmetrie und klare Ordnung des alten Systems ist zer¬
stört, und in dem dunkeln Dickicht können die -öl-anAsurkZ ä'anAii'izs nach Belieben
auf Kosten der ehrlichen Leute Wilddieberei treiben. Der einzige Zügel sind
die übertrieben hohen Gerichtskosten, die statt der bisherigen 100000 Franken
nach der neuen Taxe auf 2152000 Franken für Elsaß-Lothringen geschätzt


co lion ton se ckss osllss mMiows französisch ist. Das eigentliche Deutsch¬
land ist bis ins Mark gothisch geblieben. Wie in seinen Schriftzeichen, so in
seinem Geschmack, seinen Sitten, seiner Gesetzgebung ist es das am meisten
zurückgebliebene (attarclü) Land in Europa. Die Verwaltung und Gesetzgebung
in Elsaß-Lothringen ist deshalb nichts als ein Versuch, das Land zu „gothisiren".

2. Deutschland fühlte natürlich das Bedürfniß, eine einheitliche Rechtspflege
an die Stelle des bunten Wirrwarrs von Rechtsordnungen zu setzen. Der
blinde Haß gegen alles Französische verhinderte es, die schon in den Rhein¬
landen so trefflich bewährte französische Gerichtsordnung zum Muster zu nehmen.
Lieber kehrte man zu den Capitularien Karls des Großen, zu dein Sachsen- und
Schwabenspiegel zurück. So erklärt sich die Einrichtung der Amts- und Schöffen¬
gerichte, eine abgeschmackte Reminiscenz des karolingischen Rechtes. Die Beförde¬
rung der Vorladungen durch die Post, die Wandersitzungen der Schöffengerichte
sind Dinge, die man seit Jahrhunderten nur noch in Operetten gesehen hat.
Schlimmer ist es, daß der Zeugenbeweis jedem anderen voransteht, was in
Frankreich schon seit dem 16. Jahrhundert abgeschafft ist. Daß Realpfänder
die einzige Sicherung der Verträge bilden, ist einfach ein Rückfall in das rudi¬
mentäre Rechtswesen, welches die Einfälle der Barbaren an die Stelle des
römischen gesetzt hatten, im Grunde nnr eine Anwendung der Grundsätze: Ls-M
xossiäontW und „Gewalt geht vor Recht", die beide durch und durch germanisch
sind. Mündliche oder schriftliche Versprechungen schätzt der Deutsche genug —
sollen wir an den Artikel 5 des Prager Friedens erinnern? — und hält nnr
das für sicher, was er in der Faust hat. Man würde nie zu Ende kommen,
wollte man alle Schattenseiten der neuen Gerichtsordnung, zumal für Elsaß-
Lothringen, aufzählen. Die große Zahl der Gerichtshöfe wird die Proceßsucht
vermehren. Die Notare, bisher die berufenen Rathgeber und Vertrauten der
Familien, haben ihre einflußreiche Stellung verloren. Die Nachsuchenden werden
jetzt den Mindestfordernden, Leuten ohne Erfahrung und Moralität, in die
Hände fallen, und bei der Dunkelheiten und Zweideutigkeiten begünstigenden
deutschen Sprache, der Zulassung einer dreifachen Appellation und dem voll¬
ständigen Verschwinden einer festgegründeten und klar umschriebenen Rechtspflege
wird die geringste Frage für die Schlechten eine unversiegbare Quelle von
Rechtsstreitigkeiten werden. Die heilsame Rolle des öffentlichen Ministeriums
existirt nicht mehr, da die Parteien selbst plaidiren; die Competeuzfragen sind
äußerst verwickelt, die Symmetrie und klare Ordnung des alten Systems ist zer¬
stört, und in dem dunkeln Dickicht können die -öl-anAsurkZ ä'anAii'izs nach Belieben
auf Kosten der ehrlichen Leute Wilddieberei treiben. Der einzige Zügel sind
die übertrieben hohen Gerichtskosten, die statt der bisherigen 100000 Franken
nach der neuen Taxe auf 2152000 Franken für Elsaß-Lothringen geschätzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/369>, abgerufen am 22.07.2024.