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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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land gefesselt wurden, statt mit dem an der Spitze der Civilisation marschiren-
den Frankreich verbunden zu bleiben. Elsaß-Lothringen ist jetzt schon ein un¬
glückliches, geknechtetes, verarmtes Land; es steht zu erwarten, daß es bald
einen Generalbankerott machen wird, nachdem Alles, was es noch an materiellem
und geistigem Vermögen besitzt, in das Mutterland Frankreich ausgewandert
sein wird. Die folgende gewissenhafte Analyse wird zeigen, daß wir nicht zu
viel gesagt haben.

Die Einleitung entwickelt Folgendes: Die Expansions- und Assimilations-
kraft der deutschen Rasse hat sich in Elsaß-Lothringen nur als vollkommene
Ohnmacht offenbart. Schon empfindet man in Deutschland hie und da Reue
über die gewaltsame Annexion; aber Elsaß-Lothringen bildet den Schlußstein
der deutschen Einheit, und Deutschland ist verdammt, das, was es durch Ge¬
walt erlangt hat, mit Gewalt festzuhalten, indem es aus dem vorgeblich ger¬
manischen Lande ein ungeheueres verschanztes Lager macht. Hierauf folgen die
einzelnen Abschnitte.

1. Den Hauptgrund für das Scheitern aller Bestrebungen für eine innere
Einigung Elsaß-Lothringens mit Deutschland erblicken Viele in, dem Patriotis¬
mus, in der treuen Anhänglichkeit seiner Bewohner an Frankreich. Dem ist
nicht so. Die wesentlich aus kleinen Gutsbesitzern bestehende Bevölkerung hängt
vor Allem an ihrem Besitzthum und der engeren Heimat. Die Schuld des Miß-
lingens liegt einfach daran, daß Deutschland einem historischen Ideal nachjagt,
das für Elsaß-Lothringen Sinn- und bedeutungslos ist, daß das moderne Deutsch¬
land mit seinen gegenwärtigen Tendenzen nichts von einer modernen Nation
hat, sondern aus blinder Hingebung an seine Stammesüberlieferungen mit Be¬
wußtsein (äülidörüinoiit) wieder nach dem Mittelalter zurückstrebt. "Vor zehn
oder zwölf Jahren war Deutschland glücklich, wenigstens genoß es des Glückes,
das man den Völkern zuschreibt, die keine Geschichte haben, nach ihrer Weise
leben, sich ihren Anlagen und ihrem Genius entsprechend entwickeln -- ohne
großen Glanz, aber weise genug, um den Ruhm zu verschmähen, und sich für
die eitle Befriedigung, die derselbe seine Anbeter so theuer bezahlen läßt, durch
den Genuß der reelleren Güter entschädigend, welche genau balancirte Budgets,
mäßige Steuern, ein leichtes und bequemes Leben und väterliche Regierungen
darbieten, die, frei von den Sorgen der großen Politik und erleuchteten Fürsten
anvertraut, keine theurere Sorge kannten, als Wissenschaft, Literatur, Kunst
und gute Sitte zu fördern und nach Maßgabe ihrer kleinen Staaten Großes
zu leisten."

In diesem seligen Zustande hatten nun die Deutschen Muße zu träumen,
und sie träumten von Friedrich Barbarossa und der Herstellung seines Reiches.
Eigentlich war es aber doch nur die historische Gelehrtenschule mit ihrem par-


land gefesselt wurden, statt mit dem an der Spitze der Civilisation marschiren-
den Frankreich verbunden zu bleiben. Elsaß-Lothringen ist jetzt schon ein un¬
glückliches, geknechtetes, verarmtes Land; es steht zu erwarten, daß es bald
einen Generalbankerott machen wird, nachdem Alles, was es noch an materiellem
und geistigem Vermögen besitzt, in das Mutterland Frankreich ausgewandert
sein wird. Die folgende gewissenhafte Analyse wird zeigen, daß wir nicht zu
viel gesagt haben.

Die Einleitung entwickelt Folgendes: Die Expansions- und Assimilations-
kraft der deutschen Rasse hat sich in Elsaß-Lothringen nur als vollkommene
Ohnmacht offenbart. Schon empfindet man in Deutschland hie und da Reue
über die gewaltsame Annexion; aber Elsaß-Lothringen bildet den Schlußstein
der deutschen Einheit, und Deutschland ist verdammt, das, was es durch Ge¬
walt erlangt hat, mit Gewalt festzuhalten, indem es aus dem vorgeblich ger¬
manischen Lande ein ungeheueres verschanztes Lager macht. Hierauf folgen die
einzelnen Abschnitte.

1. Den Hauptgrund für das Scheitern aller Bestrebungen für eine innere
Einigung Elsaß-Lothringens mit Deutschland erblicken Viele in, dem Patriotis¬
mus, in der treuen Anhänglichkeit seiner Bewohner an Frankreich. Dem ist
nicht so. Die wesentlich aus kleinen Gutsbesitzern bestehende Bevölkerung hängt
vor Allem an ihrem Besitzthum und der engeren Heimat. Die Schuld des Miß-
lingens liegt einfach daran, daß Deutschland einem historischen Ideal nachjagt,
das für Elsaß-Lothringen Sinn- und bedeutungslos ist, daß das moderne Deutsch¬
land mit seinen gegenwärtigen Tendenzen nichts von einer modernen Nation
hat, sondern aus blinder Hingebung an seine Stammesüberlieferungen mit Be¬
wußtsein (äülidörüinoiit) wieder nach dem Mittelalter zurückstrebt. „Vor zehn
oder zwölf Jahren war Deutschland glücklich, wenigstens genoß es des Glückes,
das man den Völkern zuschreibt, die keine Geschichte haben, nach ihrer Weise
leben, sich ihren Anlagen und ihrem Genius entsprechend entwickeln — ohne
großen Glanz, aber weise genug, um den Ruhm zu verschmähen, und sich für
die eitle Befriedigung, die derselbe seine Anbeter so theuer bezahlen läßt, durch
den Genuß der reelleren Güter entschädigend, welche genau balancirte Budgets,
mäßige Steuern, ein leichtes und bequemes Leben und väterliche Regierungen
darbieten, die, frei von den Sorgen der großen Politik und erleuchteten Fürsten
anvertraut, keine theurere Sorge kannten, als Wissenschaft, Literatur, Kunst
und gute Sitte zu fördern und nach Maßgabe ihrer kleinen Staaten Großes
zu leisten."

In diesem seligen Zustande hatten nun die Deutschen Muße zu träumen,
und sie träumten von Friedrich Barbarossa und der Herstellung seines Reiches.
Eigentlich war es aber doch nur die historische Gelehrtenschule mit ihrem par-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/367>, abgerufen am 22.07.2024.