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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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bahnte, wird einfach der Kirche zu gute geschrieben, weil in der That Männer
geistlichen Standes sich vielfach diesen Bestrebungen anschlössen.

Wenn wirklich die Kirche, abgesehen von einzelnen Mängeln, keinen allge¬
meinen und tiefgreifenden Verfall aufwies, wenn die volkswirtschaftlichen Ver¬
hältnisse unter Leitung der Kirche trefflich gediehen, wenn die Kirche eifrig und
erfolgreich Kunst und Wissenschaft und Unterricht förderte, warum in aller Welt
kam es da zu so furchtbaren Erschütterungen, warum riß sich der größere Theil
Deutschlands von der Mutterkirche los, warum erhob sich der Bauernstand und
mit ihm vielfach das städtische Proletariat und der Adel gegen die herrschende
Ordnung?

Janssen sucht die Gründe zu alledem in dem Umsichgreifen der Geldwirth¬
schaft und dem Eindringen des römischen Rechtes, auf welches das territoriale
Fürstenthum sich stützt, vor allem aber in den revolutionären, auflösenden Ten¬
denzen des späteren Humanismus. Dem letzteren widmet er deshalb im ersten
Buche des zweiten Bandes eine ausführliche Darstellung, die freilich von seinem
streng katholischen Standpunkte aus wiederum nicht anders als höchst einseitig
sein kann. Bei Erasmus z. B. hat er kaum ein Wort sür die umfassende wis¬
senschaftliche Bedeutung des Mannes; er hebt auf der einen Seite nur seine
Schwächen, seine Abhängigkeit von fürstlicher Gunst hervor, auf der anderen
seine rationalistische Theologie und seine an's Heidnische streifende Lebensphilo¬
sophie, welche beide die kirchliche Gläubigkeit in weiten Kreisen untergruben und
für die Angriffe auf die Kirche die Waffen lieferten. Darin einfach ein Moment
in der Entwicklung des menschlichen Geistes und nicht vielmehr eine Aeußerung
sittlicher Nichtswürdigkeit zu sehen ist ihm unmöglich. Nicht besser kommt
Mutianus Rufus mit dem Erfurter Humanistenkreise weg. Da kann es denn
freilich nicht Wunder nehmen, wenn Janssen bei Besprechung der Reuchlinisten-
fehde sich voll und ganz auf die Seite der Cölner stellt, wenn er eine Lanze
bricht nicht nur für Ortvinus Gratius, sondern selbst für Johann Pfefferkorn,
wenn er für die geniale Satire der Lpistols-s ovsouroruw, virorum keine
andere Bezeichnung hat als "Schcmdlibell" (II, 59). Nahmen frühere Schrift¬
steller vielleicht allzu einseitig gegen die Cölner Partei, so ist Jcmssens Stand¬
punkt noch viel befangener; aber wie soll er diesen Streit gerecht würdigen,
dem die damalige Kirche die unbedingt wahre, jeder Abfall von derselben ein
Abfall von der Wahrheit selber ist!

Wie wird aber vollends Hütten zerzaust! Das schwere Leiden, das ihn
niemals gänzlich verließ und ihm endlich den Tod brachte, gilt in bekannter
Weise als Folge seines "liederlichen Lebenswandels", wobei es vielleicht nützlich
gewesen wäre an den ebenso wie Hütten behafteten Papst Julius II. zudenken;
nur ungezügelte Leidenschaft treibt den Reichsritter vorwärts; "seine ganze Beten-


bahnte, wird einfach der Kirche zu gute geschrieben, weil in der That Männer
geistlichen Standes sich vielfach diesen Bestrebungen anschlössen.

Wenn wirklich die Kirche, abgesehen von einzelnen Mängeln, keinen allge¬
meinen und tiefgreifenden Verfall aufwies, wenn die volkswirtschaftlichen Ver¬
hältnisse unter Leitung der Kirche trefflich gediehen, wenn die Kirche eifrig und
erfolgreich Kunst und Wissenschaft und Unterricht förderte, warum in aller Welt
kam es da zu so furchtbaren Erschütterungen, warum riß sich der größere Theil
Deutschlands von der Mutterkirche los, warum erhob sich der Bauernstand und
mit ihm vielfach das städtische Proletariat und der Adel gegen die herrschende
Ordnung?

Janssen sucht die Gründe zu alledem in dem Umsichgreifen der Geldwirth¬
schaft und dem Eindringen des römischen Rechtes, auf welches das territoriale
Fürstenthum sich stützt, vor allem aber in den revolutionären, auflösenden Ten¬
denzen des späteren Humanismus. Dem letzteren widmet er deshalb im ersten
Buche des zweiten Bandes eine ausführliche Darstellung, die freilich von seinem
streng katholischen Standpunkte aus wiederum nicht anders als höchst einseitig
sein kann. Bei Erasmus z. B. hat er kaum ein Wort sür die umfassende wis¬
senschaftliche Bedeutung des Mannes; er hebt auf der einen Seite nur seine
Schwächen, seine Abhängigkeit von fürstlicher Gunst hervor, auf der anderen
seine rationalistische Theologie und seine an's Heidnische streifende Lebensphilo¬
sophie, welche beide die kirchliche Gläubigkeit in weiten Kreisen untergruben und
für die Angriffe auf die Kirche die Waffen lieferten. Darin einfach ein Moment
in der Entwicklung des menschlichen Geistes und nicht vielmehr eine Aeußerung
sittlicher Nichtswürdigkeit zu sehen ist ihm unmöglich. Nicht besser kommt
Mutianus Rufus mit dem Erfurter Humanistenkreise weg. Da kann es denn
freilich nicht Wunder nehmen, wenn Janssen bei Besprechung der Reuchlinisten-
fehde sich voll und ganz auf die Seite der Cölner stellt, wenn er eine Lanze
bricht nicht nur für Ortvinus Gratius, sondern selbst für Johann Pfefferkorn,
wenn er für die geniale Satire der Lpistols-s ovsouroruw, virorum keine
andere Bezeichnung hat als „Schcmdlibell" (II, 59). Nahmen frühere Schrift¬
steller vielleicht allzu einseitig gegen die Cölner Partei, so ist Jcmssens Stand¬
punkt noch viel befangener; aber wie soll er diesen Streit gerecht würdigen,
dem die damalige Kirche die unbedingt wahre, jeder Abfall von derselben ein
Abfall von der Wahrheit selber ist!

Wie wird aber vollends Hütten zerzaust! Das schwere Leiden, das ihn
niemals gänzlich verließ und ihm endlich den Tod brachte, gilt in bekannter
Weise als Folge seines „liederlichen Lebenswandels", wobei es vielleicht nützlich
gewesen wäre an den ebenso wie Hütten behafteten Papst Julius II. zudenken;
nur ungezügelte Leidenschaft treibt den Reichsritter vorwärts; „seine ganze Beten-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/344>, abgerufen am 22.07.2024.