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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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reif genug war, um principiell andere Wege zu gehn als sein Lehrer, aber doch
seinen ausgeprägteren Raumsinn und die lebendigere Körperlichkeit seiner Mal¬
weise überall durchfühlen läßt. Den Einwand, daß Masaccio, als diese Bilder
gemalt wurden, noch zu jung gewesen sein müsse, als daß man sie ihm zu¬
trauen könnte, glaube ich schon in meiner erwähnten Arbeit über Masaccio
durch den Nachweis entkräftet zu haben, daß der junge Meister damals doch
schon 18--19 Jahre alt gewesen sein konnte. Immerhin bleibt es wahr, daß
diese Fresken den notorisch von Masolino gemalten Bildern in Castiglione
näher stehen als den unbestritten von Masaccio gemalten Bildern in Florenz.
Aber steht nicht Rafaels Sposalizio dem Sposalizio seines Lehrers Perugino
auch näher als der Madonna ti Fuligno? Es ist mir unbegreiflich, wie man
die täglich sich wiederholende Thatsache, daß ein 18-19 jähriger junger Künstler
sich noch eng an seinen Lehrer anschließt, für so unerhört erklären kann, daß
man ihretwegen eine klare, bündige Angabe Vasaris umstoßen zu müssen glaubt.
Lübke, der in Bezug auf die Brancacci-Capelle derselben Ansicht ist wie ich,
vertheidigt in dieser Frage die entgegengesetzte Ansicht; und das ist wenigstens
nicht unlogisch, weil die fraglichen Bilder in Florenz den unbestrittenen Ma-
saccio's jedenfalls näher stehen als diese römischen Bilder. Nicht folgerichtig
dagegen ist es, mit Knudtzon dem Masolino jene Florentiner Bilder zurück¬
zugeben, dem Masaccio aber die römischen Bilder zu lassen; denn wenn Ma¬
saccio jene fraglichen Bilder der Brancacci-Capelle nicht gemalt haben kann, so
kann er sicher die Gemälde der Kirche San Elemente, welche unzweifelhaft
auf einem primitiveren Standpunkte malerischer Entwicklung stehen, erst recht
nicht gemalt haben. Das hat auch M. Thausing gefühlt, indem er die schlechter¬
dings nothwendige Consequenz zieht, daß, wer dem Masaccio die Predigt Petri
und das Petronillabild aus stilistische,: Gründen abspricht, ihm unmöglich die
Darstellungen aus dem Leben der heiligen Catharina zuschreiben kann. Ich
bedauere also, in diesem Falle die Bundesgenossenschaft eines so tüchtigen
Forschers wie Knudtzon nur als ein halbes Glück einsehn zu können. Um so
erfreulicher aber ist es mir, daß W. Bode in der neusten Auflage des "Cicerone"
auch in Bezug auf die Kirche San Elemente mit Crowe und Cavalcaselle und
mir an der Ueberlieferung Vasaris festhält.

Am wichtigsten waren mir natürlich auch auf meiner letzten Reise die Be¬
suche in der Brancacci-Capelle; denn nur ihretwegen gewinnt die ganze
Streitfrage ja ein allgemeineres Interesse. Ich habe mich abwechselnd in die
unbestreitbar von Masaccio gemalten Hauptbilder und in jene schon von Vasari
ihm genommenen Gemälde vertieft, und ich mußte zunächst das meiste von allem
Zugehen, was feine Kenner, wie M. Thausing, im Einzelnen über die Stilver¬
schiedenheiten dieser und jener Bilder gesagt haben; ja ich fand diese Stilver-


Grenzbotcn II. 1880. ^

reif genug war, um principiell andere Wege zu gehn als sein Lehrer, aber doch
seinen ausgeprägteren Raumsinn und die lebendigere Körperlichkeit seiner Mal¬
weise überall durchfühlen läßt. Den Einwand, daß Masaccio, als diese Bilder
gemalt wurden, noch zu jung gewesen sein müsse, als daß man sie ihm zu¬
trauen könnte, glaube ich schon in meiner erwähnten Arbeit über Masaccio
durch den Nachweis entkräftet zu haben, daß der junge Meister damals doch
schon 18—19 Jahre alt gewesen sein konnte. Immerhin bleibt es wahr, daß
diese Fresken den notorisch von Masolino gemalten Bildern in Castiglione
näher stehen als den unbestritten von Masaccio gemalten Bildern in Florenz.
Aber steht nicht Rafaels Sposalizio dem Sposalizio seines Lehrers Perugino
auch näher als der Madonna ti Fuligno? Es ist mir unbegreiflich, wie man
die täglich sich wiederholende Thatsache, daß ein 18-19 jähriger junger Künstler
sich noch eng an seinen Lehrer anschließt, für so unerhört erklären kann, daß
man ihretwegen eine klare, bündige Angabe Vasaris umstoßen zu müssen glaubt.
Lübke, der in Bezug auf die Brancacci-Capelle derselben Ansicht ist wie ich,
vertheidigt in dieser Frage die entgegengesetzte Ansicht; und das ist wenigstens
nicht unlogisch, weil die fraglichen Bilder in Florenz den unbestrittenen Ma-
saccio's jedenfalls näher stehen als diese römischen Bilder. Nicht folgerichtig
dagegen ist es, mit Knudtzon dem Masolino jene Florentiner Bilder zurück¬
zugeben, dem Masaccio aber die römischen Bilder zu lassen; denn wenn Ma¬
saccio jene fraglichen Bilder der Brancacci-Capelle nicht gemalt haben kann, so
kann er sicher die Gemälde der Kirche San Elemente, welche unzweifelhaft
auf einem primitiveren Standpunkte malerischer Entwicklung stehen, erst recht
nicht gemalt haben. Das hat auch M. Thausing gefühlt, indem er die schlechter¬
dings nothwendige Consequenz zieht, daß, wer dem Masaccio die Predigt Petri
und das Petronillabild aus stilistische,: Gründen abspricht, ihm unmöglich die
Darstellungen aus dem Leben der heiligen Catharina zuschreiben kann. Ich
bedauere also, in diesem Falle die Bundesgenossenschaft eines so tüchtigen
Forschers wie Knudtzon nur als ein halbes Glück einsehn zu können. Um so
erfreulicher aber ist es mir, daß W. Bode in der neusten Auflage des „Cicerone"
auch in Bezug auf die Kirche San Elemente mit Crowe und Cavalcaselle und
mir an der Ueberlieferung Vasaris festhält.

Am wichtigsten waren mir natürlich auch auf meiner letzten Reise die Be¬
suche in der Brancacci-Capelle; denn nur ihretwegen gewinnt die ganze
Streitfrage ja ein allgemeineres Interesse. Ich habe mich abwechselnd in die
unbestreitbar von Masaccio gemalten Hauptbilder und in jene schon von Vasari
ihm genommenen Gemälde vertieft, und ich mußte zunächst das meiste von allem
Zugehen, was feine Kenner, wie M. Thausing, im Einzelnen über die Stilver¬
schiedenheiten dieser und jener Bilder gesagt haben; ja ich fand diese Stilver-


Grenzbotcn II. 1880. ^
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[0333] reif genug war, um principiell andere Wege zu gehn als sein Lehrer, aber doch seinen ausgeprägteren Raumsinn und die lebendigere Körperlichkeit seiner Mal¬ weise überall durchfühlen läßt. Den Einwand, daß Masaccio, als diese Bilder gemalt wurden, noch zu jung gewesen sein müsse, als daß man sie ihm zu¬ trauen könnte, glaube ich schon in meiner erwähnten Arbeit über Masaccio durch den Nachweis entkräftet zu haben, daß der junge Meister damals doch schon 18—19 Jahre alt gewesen sein konnte. Immerhin bleibt es wahr, daß diese Fresken den notorisch von Masolino gemalten Bildern in Castiglione näher stehen als den unbestritten von Masaccio gemalten Bildern in Florenz. Aber steht nicht Rafaels Sposalizio dem Sposalizio seines Lehrers Perugino auch näher als der Madonna ti Fuligno? Es ist mir unbegreiflich, wie man die täglich sich wiederholende Thatsache, daß ein 18-19 jähriger junger Künstler sich noch eng an seinen Lehrer anschließt, für so unerhört erklären kann, daß man ihretwegen eine klare, bündige Angabe Vasaris umstoßen zu müssen glaubt. Lübke, der in Bezug auf die Brancacci-Capelle derselben Ansicht ist wie ich, vertheidigt in dieser Frage die entgegengesetzte Ansicht; und das ist wenigstens nicht unlogisch, weil die fraglichen Bilder in Florenz den unbestrittenen Ma- saccio's jedenfalls näher stehen als diese römischen Bilder. Nicht folgerichtig dagegen ist es, mit Knudtzon dem Masolino jene Florentiner Bilder zurück¬ zugeben, dem Masaccio aber die römischen Bilder zu lassen; denn wenn Ma¬ saccio jene fraglichen Bilder der Brancacci-Capelle nicht gemalt haben kann, so kann er sicher die Gemälde der Kirche San Elemente, welche unzweifelhaft auf einem primitiveren Standpunkte malerischer Entwicklung stehen, erst recht nicht gemalt haben. Das hat auch M. Thausing gefühlt, indem er die schlechter¬ dings nothwendige Consequenz zieht, daß, wer dem Masaccio die Predigt Petri und das Petronillabild aus stilistische,: Gründen abspricht, ihm unmöglich die Darstellungen aus dem Leben der heiligen Catharina zuschreiben kann. Ich bedauere also, in diesem Falle die Bundesgenossenschaft eines so tüchtigen Forschers wie Knudtzon nur als ein halbes Glück einsehn zu können. Um so erfreulicher aber ist es mir, daß W. Bode in der neusten Auflage des „Cicerone" auch in Bezug auf die Kirche San Elemente mit Crowe und Cavalcaselle und mir an der Ueberlieferung Vasaris festhält. Am wichtigsten waren mir natürlich auch auf meiner letzten Reise die Be¬ suche in der Brancacci-Capelle; denn nur ihretwegen gewinnt die ganze Streitfrage ja ein allgemeineres Interesse. Ich habe mich abwechselnd in die unbestreitbar von Masaccio gemalten Hauptbilder und in jene schon von Vasari ihm genommenen Gemälde vertieft, und ich mußte zunächst das meiste von allem Zugehen, was feine Kenner, wie M. Thausing, im Einzelnen über die Stilver¬ schiedenheiten dieser und jener Bilder gesagt haben; ja ich fand diese Stilver- Grenzbotcn II. 1880. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/333>, abgerufen am 22.07.2024.