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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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ist dem Fluß des Vortrags und einer einheitlichen Wirkung nicht überall günstig.
Seinen Hauptzweck freilich, die Hauptmomente seiner Novellen zu vollem Leben
zu bringen und einen tiefgehenden Eindruck damit hervorzurufen, erreicht Storm
fast immer. Und neben den in der bezeichneten Weise in einzelne Bilder auf¬
gelösten Erzählungen giebt es bei ihm andere, welche sich an festem Zusammen¬
schluß und Gang, an äußerer wie innerer künstlerischer Einheit und Rundung
mit den Meisterstücken messen können, deren gerade auf diesem Gebiet die neuere
deutsche Dichtung einige aufzuweisen hat. Das aber bleibt doch feststehend, daß
er das Hauptgewicht auf die Charakteristik und auf jene Schicksalsmomente legt,
die ans den Charakteren naturgemäß und naturnothwendig hervorgehen, sich
selten zu jenen bunten Abenteuern versteigt, an denen seine Menschen mit ihrem
tiefen und zähen Heimcügefühl, ihrer individuellen Besonderheit nur zufälligen
Antheil haben könnten.

Mit wenigen Ausnahmen gehören diese Menschen der Heimat des Dichters
an, sie sind specifisch norddeutsch. Der Blick Storms reicht von den untersten
Volksclassen, deren Tüchtigkeit und eigenste Tugenden er mit prächtigen Zügen
zu schildern weiß, bis in die Kreise der freiesten und tiefsten Bildung. Indeß
sind es die bürgerliche Schichten, welche durch mäßigen Wohlstand und den tradi¬
tionellen Wunsch, ihren Kindern ein ähnliches oder besseres Schicksal zu sichern,
sich auszeichnen, in denen seine Novellen zumeist spielen, aus denen er seine
reichsten und originellsten Charaktere gewinnt. Alle diese Menschen wurzeln
in stärkster Weise im Boden der Familie, des Hauses im engeren Sinne, bei
allen spielen die Kindheitserinnerungen, die frühesten Umgebungen eine stärkere
Rolle, als es bei Gleichgestellten und Gleichgesinnten ans anderen Landschaften
der Fall sein würde. Bei ihnen Allen ist ein conservatives Element vorwaltend,
welches sich in ihrem Thun und Lassen, in Anschauungen und Gewohnheiten
wieder und wieder geltend macht. Männer und Frauen erscheinen in der
eigenthümlichen Gebundenheit einer minder strengen als spröden Sitte, im Gefühl
der Verantwortlichkeit gegenüber einer herrschenden Lebensanschauung, welche
zwar die freie Selbstbestimmung, eine edle Leidenschaft oder wärmere Neigung
nicht ausschließt, aber nur unter besonderen Bedingungen anerkennt und in ihre
Welt aufnimmt, wachsam, besorglich und zurückhaltend. Sie sind von der
Meinung ihrer Umgebungen bis auf einen gewissen Punkt stärker abhängig als
die lässigeren und gleichgiltigeren Kinder anderer Stämme. Sie erwecken in
vielen Momenten und Situationen den Eindruck, als würden sie nicht von
ihren inneren Antrieben, sondern von gewissen traditionellen Gewöhnungen
bestimmt. Dies tritt namentlich dann am stärksten hervor, wenn Storm die
unmittelbare Belebung des scharf Beobachtete" einmal mißlingt, wenn sich, wie
beispielsweise in der Novelle "Angelica", die unmittelbare Vorführung eines


ist dem Fluß des Vortrags und einer einheitlichen Wirkung nicht überall günstig.
Seinen Hauptzweck freilich, die Hauptmomente seiner Novellen zu vollem Leben
zu bringen und einen tiefgehenden Eindruck damit hervorzurufen, erreicht Storm
fast immer. Und neben den in der bezeichneten Weise in einzelne Bilder auf¬
gelösten Erzählungen giebt es bei ihm andere, welche sich an festem Zusammen¬
schluß und Gang, an äußerer wie innerer künstlerischer Einheit und Rundung
mit den Meisterstücken messen können, deren gerade auf diesem Gebiet die neuere
deutsche Dichtung einige aufzuweisen hat. Das aber bleibt doch feststehend, daß
er das Hauptgewicht auf die Charakteristik und auf jene Schicksalsmomente legt,
die ans den Charakteren naturgemäß und naturnothwendig hervorgehen, sich
selten zu jenen bunten Abenteuern versteigt, an denen seine Menschen mit ihrem
tiefen und zähen Heimcügefühl, ihrer individuellen Besonderheit nur zufälligen
Antheil haben könnten.

Mit wenigen Ausnahmen gehören diese Menschen der Heimat des Dichters
an, sie sind specifisch norddeutsch. Der Blick Storms reicht von den untersten
Volksclassen, deren Tüchtigkeit und eigenste Tugenden er mit prächtigen Zügen
zu schildern weiß, bis in die Kreise der freiesten und tiefsten Bildung. Indeß
sind es die bürgerliche Schichten, welche durch mäßigen Wohlstand und den tradi¬
tionellen Wunsch, ihren Kindern ein ähnliches oder besseres Schicksal zu sichern,
sich auszeichnen, in denen seine Novellen zumeist spielen, aus denen er seine
reichsten und originellsten Charaktere gewinnt. Alle diese Menschen wurzeln
in stärkster Weise im Boden der Familie, des Hauses im engeren Sinne, bei
allen spielen die Kindheitserinnerungen, die frühesten Umgebungen eine stärkere
Rolle, als es bei Gleichgestellten und Gleichgesinnten ans anderen Landschaften
der Fall sein würde. Bei ihnen Allen ist ein conservatives Element vorwaltend,
welches sich in ihrem Thun und Lassen, in Anschauungen und Gewohnheiten
wieder und wieder geltend macht. Männer und Frauen erscheinen in der
eigenthümlichen Gebundenheit einer minder strengen als spröden Sitte, im Gefühl
der Verantwortlichkeit gegenüber einer herrschenden Lebensanschauung, welche
zwar die freie Selbstbestimmung, eine edle Leidenschaft oder wärmere Neigung
nicht ausschließt, aber nur unter besonderen Bedingungen anerkennt und in ihre
Welt aufnimmt, wachsam, besorglich und zurückhaltend. Sie sind von der
Meinung ihrer Umgebungen bis auf einen gewissen Punkt stärker abhängig als
die lässigeren und gleichgiltigeren Kinder anderer Stämme. Sie erwecken in
vielen Momenten und Situationen den Eindruck, als würden sie nicht von
ihren inneren Antrieben, sondern von gewissen traditionellen Gewöhnungen
bestimmt. Dies tritt namentlich dann am stärksten hervor, wenn Storm die
unmittelbare Belebung des scharf Beobachtete« einmal mißlingt, wenn sich, wie
beispielsweise in der Novelle „Angelica", die unmittelbare Vorführung eines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/324>, abgerufen am 22.07.2024.