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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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und jene kleinen Lebensbilder in Prosa, die man kaum Novellen nennen mag,
weil sie keine eigentliche Handlung aufweisen und nur eine Stimmung, wie sie
auch über dem Alltagsleben liegen kann, mit feinster Detaillirung festhalten.
In seinen Gedichten schlägt Storm nur selten den erzählenden und den Balladen¬
ton an, dann aber, wie in "Geschwisterblut", in dem lieblich anmuthigen Mär¬
chen "In Bulemanns Hause", so echt und ergreifend wie nur irgend ein Poet.
Die Märchen in Prosa athmen vor allem jenes wunderbare Naturgefühl, welches
dem Dichter zu eigen ist und von welchem "Die Regentrude" vor allem Zeug¬
niß ablegt. Von den übrigen Märchen "Der Spiegel des Cyprianus", "Bule¬
manns Haus" (das größere Märchen in Prosa), "Heinzelmeier", "Der kleine
Häwelmcmn" leiden einige an der allzudetaillirten Ausführung namentlich im
Dialog, die mit Andersens Märchen eingedrungen ist und den knapp erzählen¬
den Ton des echten Märchens zerstört, welchen Storm gleichwohl z. B. im
ersten Theile der nachdenklichen Geschichte von Heinzelmeier wohl zu treffen
versteht. Schon in den Lebensbildern, in denen die volle und eindringliche
Wiedergabe der Menschencharaktere gegen die Schilderung und jene Stimmung
zurücktritt, die aus der poetischen Beschreibung erwachsen kann, verräth sich in
kleinen, zum Theil unendlich feinen Zügen, daß unser Dichter über das höchste
Poetische Vermögen, das der echten und ganzen Menschendarstellung, wenn auch
im beschränkten Umfange verfügt. Ohne daß er es will und in dem bezeichneten
kleinen Rahmen überhaupt wollen kann, birgt sich hinter den Gesichtern, die,
mit flüchtigen Strichen gezeichnet, aus den Miniaturen und Arabesken heraus¬
schauen, ein gutes Stück Leben. Hierher gehören z. B. die Bilder "Im Saal",
"Im Sonnenschein", "Posthuma", "Martha und ihre Uhr", welche bei flüchtig
Hinsehenden wohl gar das Vorurtheil erweckt haben, daß ihr Zeichner über
das stimmunggebende Blatt- und Rankenwerk zu festen Zügen und Gestalten
nicht gelangen könne oder an jene manieristische und doch originelle Auffassung
des Daseins gebunden sei, welche gewissen Rococcoarbeiten eigenthümlich ist.

Und doch bedarf es wahrlich nur einer kurzen liebevollen Beschäftigung
mit dem Dichter und noch nicht einmal jenes Eingehens, welches uns den Reich¬
thum und vollen Werth einer poetischen Welt zum unverlierbaren Bewußtsein
bringt, um bald zu erkennen, daß Storms Hauptstärke in der Charakteristik,
in der Wiedergabe ganzer Reihen von höchst eigenthümlichen, selbständigen
Persönlichkeiten liegt mit einem gemeinsamen Zug oder besser mit einer gemein¬
samen Grundlage. Gegen die Kunst des Fabulirens, das heißt der Erfindung
und Verknüpfung einer Erzählung, läßt sich bei einzelnen feiner Novellen viel
erinnern; seine Gewohnheit, die Entwicklung eines Charakters und Schicksals
in einer Handlung mit weiten, gleichsam leeren Zwischenräumen darzustellen
(eine Gewohnheit, welche übrigens eine tiefere, noch zu erörternde Ursache hat),


und jene kleinen Lebensbilder in Prosa, die man kaum Novellen nennen mag,
weil sie keine eigentliche Handlung aufweisen und nur eine Stimmung, wie sie
auch über dem Alltagsleben liegen kann, mit feinster Detaillirung festhalten.
In seinen Gedichten schlägt Storm nur selten den erzählenden und den Balladen¬
ton an, dann aber, wie in „Geschwisterblut", in dem lieblich anmuthigen Mär¬
chen „In Bulemanns Hause", so echt und ergreifend wie nur irgend ein Poet.
Die Märchen in Prosa athmen vor allem jenes wunderbare Naturgefühl, welches
dem Dichter zu eigen ist und von welchem „Die Regentrude" vor allem Zeug¬
niß ablegt. Von den übrigen Märchen „Der Spiegel des Cyprianus", „Bule¬
manns Haus" (das größere Märchen in Prosa), „Heinzelmeier", „Der kleine
Häwelmcmn" leiden einige an der allzudetaillirten Ausführung namentlich im
Dialog, die mit Andersens Märchen eingedrungen ist und den knapp erzählen¬
den Ton des echten Märchens zerstört, welchen Storm gleichwohl z. B. im
ersten Theile der nachdenklichen Geschichte von Heinzelmeier wohl zu treffen
versteht. Schon in den Lebensbildern, in denen die volle und eindringliche
Wiedergabe der Menschencharaktere gegen die Schilderung und jene Stimmung
zurücktritt, die aus der poetischen Beschreibung erwachsen kann, verräth sich in
kleinen, zum Theil unendlich feinen Zügen, daß unser Dichter über das höchste
Poetische Vermögen, das der echten und ganzen Menschendarstellung, wenn auch
im beschränkten Umfange verfügt. Ohne daß er es will und in dem bezeichneten
kleinen Rahmen überhaupt wollen kann, birgt sich hinter den Gesichtern, die,
mit flüchtigen Strichen gezeichnet, aus den Miniaturen und Arabesken heraus¬
schauen, ein gutes Stück Leben. Hierher gehören z. B. die Bilder „Im Saal",
„Im Sonnenschein", „Posthuma", „Martha und ihre Uhr", welche bei flüchtig
Hinsehenden wohl gar das Vorurtheil erweckt haben, daß ihr Zeichner über
das stimmunggebende Blatt- und Rankenwerk zu festen Zügen und Gestalten
nicht gelangen könne oder an jene manieristische und doch originelle Auffassung
des Daseins gebunden sei, welche gewissen Rococcoarbeiten eigenthümlich ist.

Und doch bedarf es wahrlich nur einer kurzen liebevollen Beschäftigung
mit dem Dichter und noch nicht einmal jenes Eingehens, welches uns den Reich¬
thum und vollen Werth einer poetischen Welt zum unverlierbaren Bewußtsein
bringt, um bald zu erkennen, daß Storms Hauptstärke in der Charakteristik,
in der Wiedergabe ganzer Reihen von höchst eigenthümlichen, selbständigen
Persönlichkeiten liegt mit einem gemeinsamen Zug oder besser mit einer gemein¬
samen Grundlage. Gegen die Kunst des Fabulirens, das heißt der Erfindung
und Verknüpfung einer Erzählung, läßt sich bei einzelnen feiner Novellen viel
erinnern; seine Gewohnheit, die Entwicklung eines Charakters und Schicksals
in einer Handlung mit weiten, gleichsam leeren Zwischenräumen darzustellen
(eine Gewohnheit, welche übrigens eine tiefere, noch zu erörternde Ursache hat),


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[0323] und jene kleinen Lebensbilder in Prosa, die man kaum Novellen nennen mag, weil sie keine eigentliche Handlung aufweisen und nur eine Stimmung, wie sie auch über dem Alltagsleben liegen kann, mit feinster Detaillirung festhalten. In seinen Gedichten schlägt Storm nur selten den erzählenden und den Balladen¬ ton an, dann aber, wie in „Geschwisterblut", in dem lieblich anmuthigen Mär¬ chen „In Bulemanns Hause", so echt und ergreifend wie nur irgend ein Poet. Die Märchen in Prosa athmen vor allem jenes wunderbare Naturgefühl, welches dem Dichter zu eigen ist und von welchem „Die Regentrude" vor allem Zeug¬ niß ablegt. Von den übrigen Märchen „Der Spiegel des Cyprianus", „Bule¬ manns Haus" (das größere Märchen in Prosa), „Heinzelmeier", „Der kleine Häwelmcmn" leiden einige an der allzudetaillirten Ausführung namentlich im Dialog, die mit Andersens Märchen eingedrungen ist und den knapp erzählen¬ den Ton des echten Märchens zerstört, welchen Storm gleichwohl z. B. im ersten Theile der nachdenklichen Geschichte von Heinzelmeier wohl zu treffen versteht. Schon in den Lebensbildern, in denen die volle und eindringliche Wiedergabe der Menschencharaktere gegen die Schilderung und jene Stimmung zurücktritt, die aus der poetischen Beschreibung erwachsen kann, verräth sich in kleinen, zum Theil unendlich feinen Zügen, daß unser Dichter über das höchste Poetische Vermögen, das der echten und ganzen Menschendarstellung, wenn auch im beschränkten Umfange verfügt. Ohne daß er es will und in dem bezeichneten kleinen Rahmen überhaupt wollen kann, birgt sich hinter den Gesichtern, die, mit flüchtigen Strichen gezeichnet, aus den Miniaturen und Arabesken heraus¬ schauen, ein gutes Stück Leben. Hierher gehören z. B. die Bilder „Im Saal", „Im Sonnenschein", „Posthuma", „Martha und ihre Uhr", welche bei flüchtig Hinsehenden wohl gar das Vorurtheil erweckt haben, daß ihr Zeichner über das stimmunggebende Blatt- und Rankenwerk zu festen Zügen und Gestalten nicht gelangen könne oder an jene manieristische und doch originelle Auffassung des Daseins gebunden sei, welche gewissen Rococcoarbeiten eigenthümlich ist. Und doch bedarf es wahrlich nur einer kurzen liebevollen Beschäftigung mit dem Dichter und noch nicht einmal jenes Eingehens, welches uns den Reich¬ thum und vollen Werth einer poetischen Welt zum unverlierbaren Bewußtsein bringt, um bald zu erkennen, daß Storms Hauptstärke in der Charakteristik, in der Wiedergabe ganzer Reihen von höchst eigenthümlichen, selbständigen Persönlichkeiten liegt mit einem gemeinsamen Zug oder besser mit einer gemein¬ samen Grundlage. Gegen die Kunst des Fabulirens, das heißt der Erfindung und Verknüpfung einer Erzählung, läßt sich bei einzelnen feiner Novellen viel erinnern; seine Gewohnheit, die Entwicklung eines Charakters und Schicksals in einer Handlung mit weiten, gleichsam leeren Zwischenräumen darzustellen (eine Gewohnheit, welche übrigens eine tiefere, noch zu erörternde Ursache hat),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/323>, abgerufen am 22.07.2024.