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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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flößt umgekehrt ein Element echter Lyrik das Vertrauen ein, daß der Dichter
die einfachsten und ursprünglichsten Grundlagen poetischer Natur nicht ent¬
behrt. Namentlich wenn diese Lyrik auch vom leisesten Zug zur äußerlichen
Wiederholung, zur formellen Virtuosität oder eitlen Selbstbespiegelung frei ist,
wenn sie warmer und schlichter Ausdruck eines tüchtigen Lebens in edelster
Form ist. Die "Gedichte" Storms spiegeln eine Persönlichkeit, ein Leben und
eine Lebensanschauung, welche von Haus aus Sympathien erwecken, sie con-
centriren den Inhalt eines bedeutenden Daseins in eigenthümlichen und form¬
schönen Weisen, sie treffen für Grundstimmungen den Ton des Volksliedes und
für subjective Erlebnisse den Ausdruck, der Anderer Herzen ergreift, sie sind im
Grundcharakter tiefernst und dabei doch von einem sanften Reiz und Hauch
durchdrungen, gelegentlich auch vom köstlichsten Humor. Die eigentlichen Lieder,
in denen die persönliche Empfindung sich in ein Allgemeingefühl wandelt,
"Octoberlied", "Die Nachtigall", "Weiße Rosen", "Wohl fühl ich wie das Leben
rinnt", "Mondlicht", "Trost" und eine Reihe anderer verdienten gewiß, mit den
besten Tönen umkleidet, Allgemeingut zu werden. Charakteristischer aber und
tiefer wirkend erscheinen uns jene Gedichte, welche, ohne aus dem Rahmen der
Lyrik herauszutreten, tief eigenartige Lebensbilder enthalten, Erinnerungen und
Nachklänge unvergeßlicher Stunden, deren jedes tüchtige und innerliche Leben
wenigstens einige aufzuweisen hat. Die Dichtungen aus einem reichen Liebes¬
leben, unter denen so einzig schöne wie "Die Stunde schlug und Deine Hand"
"Du willst es nicht in Worten sagen", "Wohl rief ich sanft Dich an mein Herz"
"Wer je gelebt in Liebesarmen" sich finden, die Gedichte "Loose", "Einer Todten",
"Eine Fremde", "Die Kleine", "Beginn des Endes", von denen jedes den Blick
in eine andere poetische und doch so wirkliche Welt eröffnet oder einem dauern¬
den Lebensgefühl zum Ausdruck verhilft, senken sich tief in die Seele mitempfin¬
dender Leser. Storm liebt es nicht, seine Erlebnisse etwa wie Rückert poetisch
zu variiren, ihm genügt es, wenn er einmal oder ein paarmal für Empfindungen,
die Jahre hindurch leben und ihn voll und warm durchdringen, eine lyrische
Zusammenfassung, einen eigenthümlichen Klang findet. Das Glück einer in sich
befriedigten Ehe, wo wäre es schöner und ergreifender im Liede erfaßt, als in
den Gedichten "Zur Nacht", "Die Kinder", "Im Herbste", "Trost" ("So komme,
was da kommen mag"), in dem tief schonen "Gedenkst Du noch?" - Die
Trauer um ein geliebtes Weib, wo hätte sie ergreifendere Töne gefunden als
in den "Tiefe Schatten" überschriebenen Blättern? Und dicht neben diesen
Hausliedern, aus gleicher Fülle und Wärme des Herzens, stehen Storms wenige
aber vollendete politische Gedichte, der geliebten Schleswig-holsteinischen Heimat
gewidmet. "Ostern", "Im Herbst 1850", "Gräber an der Küste", "Abschied"
(von 1853) sind Dichtungen so ganz individuell und unmittelbar und doch so


flößt umgekehrt ein Element echter Lyrik das Vertrauen ein, daß der Dichter
die einfachsten und ursprünglichsten Grundlagen poetischer Natur nicht ent¬
behrt. Namentlich wenn diese Lyrik auch vom leisesten Zug zur äußerlichen
Wiederholung, zur formellen Virtuosität oder eitlen Selbstbespiegelung frei ist,
wenn sie warmer und schlichter Ausdruck eines tüchtigen Lebens in edelster
Form ist. Die „Gedichte" Storms spiegeln eine Persönlichkeit, ein Leben und
eine Lebensanschauung, welche von Haus aus Sympathien erwecken, sie con-
centriren den Inhalt eines bedeutenden Daseins in eigenthümlichen und form¬
schönen Weisen, sie treffen für Grundstimmungen den Ton des Volksliedes und
für subjective Erlebnisse den Ausdruck, der Anderer Herzen ergreift, sie sind im
Grundcharakter tiefernst und dabei doch von einem sanften Reiz und Hauch
durchdrungen, gelegentlich auch vom köstlichsten Humor. Die eigentlichen Lieder,
in denen die persönliche Empfindung sich in ein Allgemeingefühl wandelt,
„Octoberlied", „Die Nachtigall", „Weiße Rosen", „Wohl fühl ich wie das Leben
rinnt", „Mondlicht", „Trost" und eine Reihe anderer verdienten gewiß, mit den
besten Tönen umkleidet, Allgemeingut zu werden. Charakteristischer aber und
tiefer wirkend erscheinen uns jene Gedichte, welche, ohne aus dem Rahmen der
Lyrik herauszutreten, tief eigenartige Lebensbilder enthalten, Erinnerungen und
Nachklänge unvergeßlicher Stunden, deren jedes tüchtige und innerliche Leben
wenigstens einige aufzuweisen hat. Die Dichtungen aus einem reichen Liebes¬
leben, unter denen so einzig schöne wie „Die Stunde schlug und Deine Hand"
„Du willst es nicht in Worten sagen", „Wohl rief ich sanft Dich an mein Herz"
„Wer je gelebt in Liebesarmen" sich finden, die Gedichte „Loose", „Einer Todten",
„Eine Fremde", „Die Kleine", „Beginn des Endes", von denen jedes den Blick
in eine andere poetische und doch so wirkliche Welt eröffnet oder einem dauern¬
den Lebensgefühl zum Ausdruck verhilft, senken sich tief in die Seele mitempfin¬
dender Leser. Storm liebt es nicht, seine Erlebnisse etwa wie Rückert poetisch
zu variiren, ihm genügt es, wenn er einmal oder ein paarmal für Empfindungen,
die Jahre hindurch leben und ihn voll und warm durchdringen, eine lyrische
Zusammenfassung, einen eigenthümlichen Klang findet. Das Glück einer in sich
befriedigten Ehe, wo wäre es schöner und ergreifender im Liede erfaßt, als in
den Gedichten „Zur Nacht", „Die Kinder", „Im Herbste", „Trost" („So komme,
was da kommen mag"), in dem tief schonen „Gedenkst Du noch?" - Die
Trauer um ein geliebtes Weib, wo hätte sie ergreifendere Töne gefunden als
in den „Tiefe Schatten" überschriebenen Blättern? Und dicht neben diesen
Hausliedern, aus gleicher Fülle und Wärme des Herzens, stehen Storms wenige
aber vollendete politische Gedichte, der geliebten Schleswig-holsteinischen Heimat
gewidmet. „Ostern", „Im Herbst 1850", „Gräber an der Küste", „Abschied"
(von 1853) sind Dichtungen so ganz individuell und unmittelbar und doch so


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[0321] flößt umgekehrt ein Element echter Lyrik das Vertrauen ein, daß der Dichter die einfachsten und ursprünglichsten Grundlagen poetischer Natur nicht ent¬ behrt. Namentlich wenn diese Lyrik auch vom leisesten Zug zur äußerlichen Wiederholung, zur formellen Virtuosität oder eitlen Selbstbespiegelung frei ist, wenn sie warmer und schlichter Ausdruck eines tüchtigen Lebens in edelster Form ist. Die „Gedichte" Storms spiegeln eine Persönlichkeit, ein Leben und eine Lebensanschauung, welche von Haus aus Sympathien erwecken, sie con- centriren den Inhalt eines bedeutenden Daseins in eigenthümlichen und form¬ schönen Weisen, sie treffen für Grundstimmungen den Ton des Volksliedes und für subjective Erlebnisse den Ausdruck, der Anderer Herzen ergreift, sie sind im Grundcharakter tiefernst und dabei doch von einem sanften Reiz und Hauch durchdrungen, gelegentlich auch vom köstlichsten Humor. Die eigentlichen Lieder, in denen die persönliche Empfindung sich in ein Allgemeingefühl wandelt, „Octoberlied", „Die Nachtigall", „Weiße Rosen", „Wohl fühl ich wie das Leben rinnt", „Mondlicht", „Trost" und eine Reihe anderer verdienten gewiß, mit den besten Tönen umkleidet, Allgemeingut zu werden. Charakteristischer aber und tiefer wirkend erscheinen uns jene Gedichte, welche, ohne aus dem Rahmen der Lyrik herauszutreten, tief eigenartige Lebensbilder enthalten, Erinnerungen und Nachklänge unvergeßlicher Stunden, deren jedes tüchtige und innerliche Leben wenigstens einige aufzuweisen hat. Die Dichtungen aus einem reichen Liebes¬ leben, unter denen so einzig schöne wie „Die Stunde schlug und Deine Hand" „Du willst es nicht in Worten sagen", „Wohl rief ich sanft Dich an mein Herz" „Wer je gelebt in Liebesarmen" sich finden, die Gedichte „Loose", „Einer Todten", „Eine Fremde", „Die Kleine", „Beginn des Endes", von denen jedes den Blick in eine andere poetische und doch so wirkliche Welt eröffnet oder einem dauern¬ den Lebensgefühl zum Ausdruck verhilft, senken sich tief in die Seele mitempfin¬ dender Leser. Storm liebt es nicht, seine Erlebnisse etwa wie Rückert poetisch zu variiren, ihm genügt es, wenn er einmal oder ein paarmal für Empfindungen, die Jahre hindurch leben und ihn voll und warm durchdringen, eine lyrische Zusammenfassung, einen eigenthümlichen Klang findet. Das Glück einer in sich befriedigten Ehe, wo wäre es schöner und ergreifender im Liede erfaßt, als in den Gedichten „Zur Nacht", „Die Kinder", „Im Herbste", „Trost" („So komme, was da kommen mag"), in dem tief schonen „Gedenkst Du noch?" - Die Trauer um ein geliebtes Weib, wo hätte sie ergreifendere Töne gefunden als in den „Tiefe Schatten" überschriebenen Blättern? Und dicht neben diesen Hausliedern, aus gleicher Fülle und Wärme des Herzens, stehen Storms wenige aber vollendete politische Gedichte, der geliebten Schleswig-holsteinischen Heimat gewidmet. „Ostern", „Im Herbst 1850", „Gräber an der Küste", „Abschied" (von 1853) sind Dichtungen so ganz individuell und unmittelbar und doch so

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/321>, abgerufen am 25.08.2024.