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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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für zu weitgehend halte, und indem die Regierung auf eine versöhnliche Stim¬
mung in Rom rechnete, ließ sie ihre Gesandtschaft in ihrer Stellung beim Vatican.

Die Organisation der Geistlichkeit hat in Belgien beträchtliche Fortschritte
gemacht. 1830 hatte das Land 4000 Mönche und Nonnen, gegenwärtig wird
es deren 25 bis 30000 haben. Die belgischen Klöster find zu den reichsten
der Welt geworden. Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir die Zahl der
klericalen Blätter auf 200 veranschlagen. Die Universität zu Löwen, wo man
die Schönheiten des Syllabus lehrt, hat dermalen 1500 Studenten. Man darf
aber daraus nicht den Schluß ziehen, daß sich der Einfluß des Episcopats er¬
heblich vermehrt habe. Die Bischöfe können nicht mehr wie zu Ende des vorigen
Jahrhunderts eine Revolution zu Stande bringen. Wenn sie noch auf dem
Lande dominiren, so haben sie in den Städten den größten Theil ihres An¬
sehens eingebüßt. Ihre Gegner haben sich gleichfalls organisirt, und für auf¬
merksame Beobachter ist es eine ausgemachte Thatsache, daß Belgien niemals
wieder unter das theokratische Joch gerathen wird. Dazu würde nothwendig
fein, daß der Gang, den die Dinge genommen haben, aufgehalten würde und
die Ereignisse sich in einer Weise entwickelten, die durchaus nicht zu erwarten ist.

Das belgische Königthum, um deswillen man vor fünfzig Jahren so leb¬
hafte Beunruhigung empfand, ist erhalten geblieben. Der Thron hat nicht die
geringste Erschütterung erfahren. Es giebt heutzutage in Belgien weniger Repu¬
blikaner als 1830. König Leopold I. hat seinem Volke ein Vertrauen und eine
Anhänglichkeit einzuflößen verstanden, die sich niemals verleugneten. Leopold II.,
der den Traditionen seines Vaters folgte, erfreut sich derselben Hochachtung und
Liebe. Als 1850 die Königin Louise Marie starb, trauerte das ganze Land,
vierzehn Tage lang bezeugte das belgische Volk immer aufs neue seinen Schmerz,
und die gestimmte Nation weinte mit seinem Fürsten.

Dank seinem Ordnungssinn, seinem gesunden politischen Verstände, seiner
Achtung vor den Institutionen des Landes und dank seiner Rührigkeit und
seiner energischen Arbeitskraft, hat das belgische Volk während des halben Jahr¬
hunderts seiner unabhängigen Existenz Fortschritte gemacht, die ebenso gediegen
Wie erstaunlich sind. Alles hat sich bei ihm.trefflich entwickelt: die schönen
Künste, die Wissenschaften, der öffentliche Unterricht, Industrie, Handel und
Ackerbau. Alles blüht und gedeiht. Belgien ist eins der wohlhabendsten und
glücklichsten Länder Europas geworden, und mit stolzem Bewußtsein wird es das
gwße Nationalfest feiern können, auf das es sich soeben vorbereitet. Deutschland
wird an diesem Feste theilnehmen. Es wird nicht der letzte der Nachbarn sein,
die erscheinen werden, um der befreundeten Nation Glück zu wünschen zu ihrer
Vergangenheit und damit den Wunsch zu verbinden, daß ihre Zukunft ihr
gleiches Glück gewähren und erhalten möge.




Grenzboten II

für zu weitgehend halte, und indem die Regierung auf eine versöhnliche Stim¬
mung in Rom rechnete, ließ sie ihre Gesandtschaft in ihrer Stellung beim Vatican.

Die Organisation der Geistlichkeit hat in Belgien beträchtliche Fortschritte
gemacht. 1830 hatte das Land 4000 Mönche und Nonnen, gegenwärtig wird
es deren 25 bis 30000 haben. Die belgischen Klöster find zu den reichsten
der Welt geworden. Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir die Zahl der
klericalen Blätter auf 200 veranschlagen. Die Universität zu Löwen, wo man
die Schönheiten des Syllabus lehrt, hat dermalen 1500 Studenten. Man darf
aber daraus nicht den Schluß ziehen, daß sich der Einfluß des Episcopats er¬
heblich vermehrt habe. Die Bischöfe können nicht mehr wie zu Ende des vorigen
Jahrhunderts eine Revolution zu Stande bringen. Wenn sie noch auf dem
Lande dominiren, so haben sie in den Städten den größten Theil ihres An¬
sehens eingebüßt. Ihre Gegner haben sich gleichfalls organisirt, und für auf¬
merksame Beobachter ist es eine ausgemachte Thatsache, daß Belgien niemals
wieder unter das theokratische Joch gerathen wird. Dazu würde nothwendig
fein, daß der Gang, den die Dinge genommen haben, aufgehalten würde und
die Ereignisse sich in einer Weise entwickelten, die durchaus nicht zu erwarten ist.

Das belgische Königthum, um deswillen man vor fünfzig Jahren so leb¬
hafte Beunruhigung empfand, ist erhalten geblieben. Der Thron hat nicht die
geringste Erschütterung erfahren. Es giebt heutzutage in Belgien weniger Repu¬
blikaner als 1830. König Leopold I. hat seinem Volke ein Vertrauen und eine
Anhänglichkeit einzuflößen verstanden, die sich niemals verleugneten. Leopold II.,
der den Traditionen seines Vaters folgte, erfreut sich derselben Hochachtung und
Liebe. Als 1850 die Königin Louise Marie starb, trauerte das ganze Land,
vierzehn Tage lang bezeugte das belgische Volk immer aufs neue seinen Schmerz,
und die gestimmte Nation weinte mit seinem Fürsten.

Dank seinem Ordnungssinn, seinem gesunden politischen Verstände, seiner
Achtung vor den Institutionen des Landes und dank seiner Rührigkeit und
seiner energischen Arbeitskraft, hat das belgische Volk während des halben Jahr¬
hunderts seiner unabhängigen Existenz Fortschritte gemacht, die ebenso gediegen
Wie erstaunlich sind. Alles hat sich bei ihm.trefflich entwickelt: die schönen
Künste, die Wissenschaften, der öffentliche Unterricht, Industrie, Handel und
Ackerbau. Alles blüht und gedeiht. Belgien ist eins der wohlhabendsten und
glücklichsten Länder Europas geworden, und mit stolzem Bewußtsein wird es das
gwße Nationalfest feiern können, auf das es sich soeben vorbereitet. Deutschland
wird an diesem Feste theilnehmen. Es wird nicht der letzte der Nachbarn sein,
die erscheinen werden, um der befreundeten Nation Glück zu wünschen zu ihrer
Vergangenheit und damit den Wunsch zu verbinden, daß ihre Zukunft ihr
gleiches Glück gewähren und erhalten möge.




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[0317] für zu weitgehend halte, und indem die Regierung auf eine versöhnliche Stim¬ mung in Rom rechnete, ließ sie ihre Gesandtschaft in ihrer Stellung beim Vatican. Die Organisation der Geistlichkeit hat in Belgien beträchtliche Fortschritte gemacht. 1830 hatte das Land 4000 Mönche und Nonnen, gegenwärtig wird es deren 25 bis 30000 haben. Die belgischen Klöster find zu den reichsten der Welt geworden. Wir glauben nicht zu übertreiben, wenn wir die Zahl der klericalen Blätter auf 200 veranschlagen. Die Universität zu Löwen, wo man die Schönheiten des Syllabus lehrt, hat dermalen 1500 Studenten. Man darf aber daraus nicht den Schluß ziehen, daß sich der Einfluß des Episcopats er¬ heblich vermehrt habe. Die Bischöfe können nicht mehr wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts eine Revolution zu Stande bringen. Wenn sie noch auf dem Lande dominiren, so haben sie in den Städten den größten Theil ihres An¬ sehens eingebüßt. Ihre Gegner haben sich gleichfalls organisirt, und für auf¬ merksame Beobachter ist es eine ausgemachte Thatsache, daß Belgien niemals wieder unter das theokratische Joch gerathen wird. Dazu würde nothwendig fein, daß der Gang, den die Dinge genommen haben, aufgehalten würde und die Ereignisse sich in einer Weise entwickelten, die durchaus nicht zu erwarten ist. Das belgische Königthum, um deswillen man vor fünfzig Jahren so leb¬ hafte Beunruhigung empfand, ist erhalten geblieben. Der Thron hat nicht die geringste Erschütterung erfahren. Es giebt heutzutage in Belgien weniger Repu¬ blikaner als 1830. König Leopold I. hat seinem Volke ein Vertrauen und eine Anhänglichkeit einzuflößen verstanden, die sich niemals verleugneten. Leopold II., der den Traditionen seines Vaters folgte, erfreut sich derselben Hochachtung und Liebe. Als 1850 die Königin Louise Marie starb, trauerte das ganze Land, vierzehn Tage lang bezeugte das belgische Volk immer aufs neue seinen Schmerz, und die gestimmte Nation weinte mit seinem Fürsten. Dank seinem Ordnungssinn, seinem gesunden politischen Verstände, seiner Achtung vor den Institutionen des Landes und dank seiner Rührigkeit und seiner energischen Arbeitskraft, hat das belgische Volk während des halben Jahr¬ hunderts seiner unabhängigen Existenz Fortschritte gemacht, die ebenso gediegen Wie erstaunlich sind. Alles hat sich bei ihm.trefflich entwickelt: die schönen Künste, die Wissenschaften, der öffentliche Unterricht, Industrie, Handel und Ackerbau. Alles blüht und gedeiht. Belgien ist eins der wohlhabendsten und glücklichsten Länder Europas geworden, und mit stolzem Bewußtsein wird es das gwße Nationalfest feiern können, auf das es sich soeben vorbereitet. Deutschland wird an diesem Feste theilnehmen. Es wird nicht der letzte der Nachbarn sein, die erscheinen werden, um der befreundeten Nation Glück zu wünschen zu ihrer Vergangenheit und damit den Wunsch zu verbinden, daß ihre Zukunft ihr gleiches Glück gewähren und erhalten möge. Grenzboten II

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/317>, abgerufen am 22.07.2024.