Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.von dem Hauslehrer empfingen. So wurde sie auch mit der lateinischen Sprache Aber eigenthümlich: die dichterische Begabung, die das Kind in so hohem von dem Hauslehrer empfingen. So wurde sie auch mit der lateinischen Sprache Aber eigenthümlich: die dichterische Begabung, die das Kind in so hohem <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146785"/> <p xml:id="ID_841" prev="#ID_840"> von dem Hauslehrer empfingen. So wurde sie auch mit der lateinischen Sprache<lb/> vertraut. Von verderblicher Lesewuth blieb sie nicht frei; alle ihr zugänglichen<lb/> Bücher wurden von ihr verschlungen. Die alterthümliche Burg mit ihren<lb/> dunklen Kammern und Gängen reizte ihre Phantasie. Schon im achten Jahre<lb/> trat ihr poetisches Talent hervor. Ein Gedicht aus ein Hähnchen und ein Gruß<lb/> an die Mutter zu ihrem Namenstage sind die ersten Zeugnisse ihrer dichterische»<lb/> Gabe. Gleichzeitig componirte sie Clavierbegleitungen zu Liedern und Schau¬<lb/> spielen, die in Weißes „Kinderfreund" sich befanden, und das Bewußtsein künst¬<lb/> lerischer und dichterischer Begabung erwachte. „Wenn ich älter bin," sagte sie<lb/> zu ihrer Mutter, die sich einmal günstig über eine musikalische Leistung Annelees<lb/> ausgesprochen hatte, „schreibe ich solche Stücke und solche Lieder selbst und com-<lb/> ponire sie, und noch viel schönere als diese." Und bald zeigte sie, daß ihr<lb/> Bewußtsein sie nicht täuschte. Das im heroischen Versmaß verfaßte Gedicht<lb/> „Der Abend", aus ihrem zwölften Lebensjahre, zeugt bereits von großer Be¬<lb/> herrschung der Sprache, Anschaulichkeit der Darstellung und Reife des Urtheils.</p><lb/> <p xml:id="ID_842" next="#ID_843"> Aber eigenthümlich: die dichterische Begabung, die das Kind in so hohem<lb/> Maße zeigte, schlummerte in den folgenden Jahren, in denen Annette zur Jung¬<lb/> frau erwuchs. Lectüre, Zeichnen, Musik beschäftigten sie; vielleicht begann sie<lb/> auch schon die kleinen Sammlungen, für die sie später so großes Interesse zeigte.<lb/> Ihre Jugend verlief in der ländlichen Stille des elterlichen Hauses, ihre zwei<lb/> Jahre ältere Schwester Jenny, ihre beiden jüngeren Brüder Werner und Fer¬<lb/> dinand waren die Arbeits- und Spielgenossen. Besuche in Münster und der<lb/> Nachbarschaft, auch im Paderbornschen, bei Verwandten unterbrachen die Ein¬<lb/> förmigkeit des Lebens. Manche anziehende und bedeutende Persönlichkeiten lernte<lb/> hier Annette kennen, die Fürstin Gallizin, den Minister von Fürstenberg, den<lb/> Grafen Leopold von Stolberg, den General von Lützow und seine Frau, die<lb/> Oheime Werner und August von Haxthausen. Doch scheint sie von den erst¬<lb/> genannten, ihr nicht verwandtschaftlich nahestehenden keinen tiefer greifenden<lb/> Einfluß erfahren zu haben. Das Leben im elterlichen Hause hat sie uns selbst<lb/> mit liebevoller Pietät gegen Vater und Mutter gezeichnet und in der Gestalt<lb/> des Fräulein Sophie sich selbst in wohlgetroffenen Zügen dargestellt. „Fräu¬<lb/> lein Sophie," läßt sie den Vetter aus der Lausitz in sein Tagebuch schreiben,<lb/> „gleicht ihrem Bruder aufs Haar, ist aber mit ihren achtzehn Jahren bedeutend<lb/> ausgebildeter und könnte interessant sein, wenn sie den Entschluß dazu faßte.<lb/> Ob ich sie hübsch nenne? Sie ist es zwanzig Mal im Tage, und ebenso oft<lb/> wieder das Gegentheil; ihre schlanke, immer etwas gebückte Gestalt gleicht einer<lb/> überschossenen Pflanze, die im Winde schwankt; ihre nicht regelmäßigen, aber<lb/> scharf geschnittenen Züge haben allerdings etwas höchst Adeliches und können<lb/> sich, wenn sie meinen Erzählungen von blauen Wundern lauscht, bis zum Aus-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0280]
von dem Hauslehrer empfingen. So wurde sie auch mit der lateinischen Sprache
vertraut. Von verderblicher Lesewuth blieb sie nicht frei; alle ihr zugänglichen
Bücher wurden von ihr verschlungen. Die alterthümliche Burg mit ihren
dunklen Kammern und Gängen reizte ihre Phantasie. Schon im achten Jahre
trat ihr poetisches Talent hervor. Ein Gedicht aus ein Hähnchen und ein Gruß
an die Mutter zu ihrem Namenstage sind die ersten Zeugnisse ihrer dichterische»
Gabe. Gleichzeitig componirte sie Clavierbegleitungen zu Liedern und Schau¬
spielen, die in Weißes „Kinderfreund" sich befanden, und das Bewußtsein künst¬
lerischer und dichterischer Begabung erwachte. „Wenn ich älter bin," sagte sie
zu ihrer Mutter, die sich einmal günstig über eine musikalische Leistung Annelees
ausgesprochen hatte, „schreibe ich solche Stücke und solche Lieder selbst und com-
ponire sie, und noch viel schönere als diese." Und bald zeigte sie, daß ihr
Bewußtsein sie nicht täuschte. Das im heroischen Versmaß verfaßte Gedicht
„Der Abend", aus ihrem zwölften Lebensjahre, zeugt bereits von großer Be¬
herrschung der Sprache, Anschaulichkeit der Darstellung und Reife des Urtheils.
Aber eigenthümlich: die dichterische Begabung, die das Kind in so hohem
Maße zeigte, schlummerte in den folgenden Jahren, in denen Annette zur Jung¬
frau erwuchs. Lectüre, Zeichnen, Musik beschäftigten sie; vielleicht begann sie
auch schon die kleinen Sammlungen, für die sie später so großes Interesse zeigte.
Ihre Jugend verlief in der ländlichen Stille des elterlichen Hauses, ihre zwei
Jahre ältere Schwester Jenny, ihre beiden jüngeren Brüder Werner und Fer¬
dinand waren die Arbeits- und Spielgenossen. Besuche in Münster und der
Nachbarschaft, auch im Paderbornschen, bei Verwandten unterbrachen die Ein¬
förmigkeit des Lebens. Manche anziehende und bedeutende Persönlichkeiten lernte
hier Annette kennen, die Fürstin Gallizin, den Minister von Fürstenberg, den
Grafen Leopold von Stolberg, den General von Lützow und seine Frau, die
Oheime Werner und August von Haxthausen. Doch scheint sie von den erst¬
genannten, ihr nicht verwandtschaftlich nahestehenden keinen tiefer greifenden
Einfluß erfahren zu haben. Das Leben im elterlichen Hause hat sie uns selbst
mit liebevoller Pietät gegen Vater und Mutter gezeichnet und in der Gestalt
des Fräulein Sophie sich selbst in wohlgetroffenen Zügen dargestellt. „Fräu¬
lein Sophie," läßt sie den Vetter aus der Lausitz in sein Tagebuch schreiben,
„gleicht ihrem Bruder aufs Haar, ist aber mit ihren achtzehn Jahren bedeutend
ausgebildeter und könnte interessant sein, wenn sie den Entschluß dazu faßte.
Ob ich sie hübsch nenne? Sie ist es zwanzig Mal im Tage, und ebenso oft
wieder das Gegentheil; ihre schlanke, immer etwas gebückte Gestalt gleicht einer
überschossenen Pflanze, die im Winde schwankt; ihre nicht regelmäßigen, aber
scharf geschnittenen Züge haben allerdings etwas höchst Adeliches und können
sich, wenn sie meinen Erzählungen von blauen Wundern lauscht, bis zum Aus-
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