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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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dürftigen und würdigen "armen Reisenden" jetzt sich so zahlreich zeigen und
Behörden und Vereine so stark in Anspruch nehmen, sind alle verfügbaren Mittel
um so sorgsamer vor Vergeudung zu hüten. Allzusehr gebricht es aber noch
auf Seiten des Publikums, namentlich der Frauen, an jener negativen Unter¬
stützung, die das Herz hat, Almosengesuche von Unbekannten abzuweisen. Je
mehr jeder menschlich empfindende zum Geben an scheinbar dürftige neigt,
destomehr hat er sich zum Bewußtsein zu bringen und einzuprägen, daß er durch
Spenden an falschem Orte sehr ernste Pflichten verletzt.

Wer Ungerechtigkeit und Härte in dem gesetzlichen Bettelverbote sieht, pflegt
sich durch dasselbe nicht gebunden zu erachten, sucht es vielmehr heimlich zu
umgehen. Der Hauptgrund lautet da immer: "Einige wahrhaft Schwerbe¬
drängte sind ja doch anerkanntermaßen unter dem Bettlerheere; da ich Einzelner
diese nicht sicher herausfinden kann, gebe ich lieber jedem Erwachsenen, dem
nicht der Müßiggänger, Vagabund oder Trunkenbold auf der Stirn geschrieben
steht." Dieser Einwurf verliert seine Kraft, sobald Folgendes ins Auge ge¬
faßt wird.

In unserer Zeit gilt es vor Allen?, in den ärmeren Classen das Ehrgefühl
zu fördern, welches das Heischen und Empfangen von Almosen als sittlich ent¬
würdigend erkennt. Diesem Ziele kann schon dadurch näher gekommen werden,
daß die Gesellschaft darauf hinarbeitet, das Bettlergewerbe weniger
einträglich zu machen. Denn auf Arbeitsscheue und Schwankende übt es
einen verhängnisvollen Reiz, wenn sie täglich sehen, wie leicht Almosen erschlichen
werden und wie gut es die professionellen Bettler haben. Jene wenigen un¬
zweifelhaft dürftigen, die sich nicht schenen öffentlich anzusprechen, verkommen
auch ohne deine und meine Gabe nicht. Suchen wir demnach lieber die schüch¬
terne, versteckte Armuth auf, um hier desto reichlicher zu spenden. Ein treffliches
Mittel dazu ist der Beitritt zu einem wohlgeleiteten "Vereine gegen Verarmung",
der uns ja deshalb nicht abzuhalten braucht, privatim da zu helfen, wo es
ersichtlich noththut. Wer sein "Gewissen salviren" will, mag dann nur die
Summe, die er bisher in Dreiern und Groschen aufs Gerathewohl jährlich
ausschleuderte, verdoppeln, vervielfachen.

Wie listig und erfolgreich in Stadt und Land das Bettelgewerbe betrieben
wird, ist erst in neuerer Zeit ruchbar geworden. Mit Armuths- und Krank-
Heits-Ausweispapieren wird förmlich Handel getrieben und die Bettelbriefstellerei
zunftmäßig geübt. Sogenannte "Beinreisende" wissen ekelhafte Wunden und
Geschwüre am Bein offen zu halten und, nachdem sie im Spital geheilt, wieder
und wieder zum Ausbruch zu bringen. In Hannover ertappte die Polizei kürz¬
lich einen solchen Uuheilkünstler, der seinem sauberen Metier seit anderthalb
Jahren oblag. Bald wird es vielleicht diesseits des Canals wie drüben in


Gnnzbotcn II, 1LS0. 33

dürftigen und würdigen „armen Reisenden" jetzt sich so zahlreich zeigen und
Behörden und Vereine so stark in Anspruch nehmen, sind alle verfügbaren Mittel
um so sorgsamer vor Vergeudung zu hüten. Allzusehr gebricht es aber noch
auf Seiten des Publikums, namentlich der Frauen, an jener negativen Unter¬
stützung, die das Herz hat, Almosengesuche von Unbekannten abzuweisen. Je
mehr jeder menschlich empfindende zum Geben an scheinbar dürftige neigt,
destomehr hat er sich zum Bewußtsein zu bringen und einzuprägen, daß er durch
Spenden an falschem Orte sehr ernste Pflichten verletzt.

Wer Ungerechtigkeit und Härte in dem gesetzlichen Bettelverbote sieht, pflegt
sich durch dasselbe nicht gebunden zu erachten, sucht es vielmehr heimlich zu
umgehen. Der Hauptgrund lautet da immer: „Einige wahrhaft Schwerbe¬
drängte sind ja doch anerkanntermaßen unter dem Bettlerheere; da ich Einzelner
diese nicht sicher herausfinden kann, gebe ich lieber jedem Erwachsenen, dem
nicht der Müßiggänger, Vagabund oder Trunkenbold auf der Stirn geschrieben
steht." Dieser Einwurf verliert seine Kraft, sobald Folgendes ins Auge ge¬
faßt wird.

In unserer Zeit gilt es vor Allen?, in den ärmeren Classen das Ehrgefühl
zu fördern, welches das Heischen und Empfangen von Almosen als sittlich ent¬
würdigend erkennt. Diesem Ziele kann schon dadurch näher gekommen werden,
daß die Gesellschaft darauf hinarbeitet, das Bettlergewerbe weniger
einträglich zu machen. Denn auf Arbeitsscheue und Schwankende übt es
einen verhängnisvollen Reiz, wenn sie täglich sehen, wie leicht Almosen erschlichen
werden und wie gut es die professionellen Bettler haben. Jene wenigen un¬
zweifelhaft dürftigen, die sich nicht schenen öffentlich anzusprechen, verkommen
auch ohne deine und meine Gabe nicht. Suchen wir demnach lieber die schüch¬
terne, versteckte Armuth auf, um hier desto reichlicher zu spenden. Ein treffliches
Mittel dazu ist der Beitritt zu einem wohlgeleiteten „Vereine gegen Verarmung",
der uns ja deshalb nicht abzuhalten braucht, privatim da zu helfen, wo es
ersichtlich noththut. Wer sein „Gewissen salviren" will, mag dann nur die
Summe, die er bisher in Dreiern und Groschen aufs Gerathewohl jährlich
ausschleuderte, verdoppeln, vervielfachen.

Wie listig und erfolgreich in Stadt und Land das Bettelgewerbe betrieben
wird, ist erst in neuerer Zeit ruchbar geworden. Mit Armuths- und Krank-
Heits-Ausweispapieren wird förmlich Handel getrieben und die Bettelbriefstellerei
zunftmäßig geübt. Sogenannte „Beinreisende" wissen ekelhafte Wunden und
Geschwüre am Bein offen zu halten und, nachdem sie im Spital geheilt, wieder
und wieder zum Ausbruch zu bringen. In Hannover ertappte die Polizei kürz¬
lich einen solchen Uuheilkünstler, der seinem sauberen Metier seit anderthalb
Jahren oblag. Bald wird es vielleicht diesseits des Canals wie drüben in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/261>, abgerufen am 03.07.2024.