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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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schaftsbilder, eine große Zahl von Balladen, sowie einige poetische Erzählungen,
viele Gedichte, aus Welt- und Selbstbeobachtung entsprungen, zeigen den Umfang
ihrer poetischen Kraft, die Vielseitigkeit ihrer inneren Beziehungen.

Auf ihre landschaftlichen Gemälde richten wir zuerst den Blick. Die hei¬
mische Haide des Münsterlandes und die Alpenwelt der Schweiz bilden fast
ausschließlich die Gegenstände ihrer dichterischen Zeichnung. Wie es in der Natur
dieser landschaftlichen Gegensätze liegt, ist die Stimmung der Dichterin hier und
dort eine sehr verschiedene. Die Monotonie der Haide, die unbestimmte Gleich¬
mäßigkeit ihrer Färbung, die Nebel, die sich über sie hinziehen, wecken in ihrer
Seele ahnungsvolle Empfindungen, versetzen sie in Zustände eines gewissen Hell¬
sehens, in denen Vergangenheit und Zukunft ihr im Dämmerlichte erscheinen;
düstere, schwankende Gestalten beleben in Hr die Mythen, zu denen sich die
Naturvorgänge im Volksbewußtsein verdichtet haben. So tritt in dem Gedichte
"Die Mergelgrube" der ewige Wechsel zwischen Entstehen und Vergehen erschüt¬
ternd vor ihr inneres Auge; die Anfänge und Ausgänge des irdischen Seins
ziehen an der Träumender vorüber:


Vor mir, um mich der graue Mergel nur,
Was drüber, sah ich uichtl doch die Natur
schien mir verödet, und ein Bild erstand
Von einer Erde, mürbe, ausgebrannt;
Ich selber schien ein Funken mir, der doch
Erzittert in der todten Asche noch,
Ein Findling im zerfcillnen Weltenbau,
Die Wolke theilte sich, der Wind ward lau;
Mein Haupt nicht wagt' ich aus dem Hodl zu strecken,
Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken,
Wie Neues quoll, und Altes sich zersetzte --
War ich der erste Mensch oder der letzte?

Im "Haidemann" ist es der Abendnebel, der sich über den Haidegrund legt,
und die mannigfaltigen Bildungen und Farbenwechsel desselben, die sie in An¬
schauung und Ahnung der Haidebewohner uns vergegenwärtigt. "Geht Kinder
nicht zu weit ins Bruch", ist der Mutter erste Mahnung, da die Sonne sinkt.
Dann lautet sie dringender: "Ihr Kinder legt euch nicht ins Gras, der Haide¬
mann schwillt," und dann von neuem: "ihr Kinder haltet euch bei Haus, der
Haidemann brant", "ihr Kinder kommt, kommt schnell herein, der Haidemann
zieht". Dann ein neues Bild:


Es siedet auf, es färbt die Wellen,
Der Nord, der Nord entzündet sich --
Glutpfeile, Feuerspeere schnellen,
Der Horizont ein Lavastrich

schaftsbilder, eine große Zahl von Balladen, sowie einige poetische Erzählungen,
viele Gedichte, aus Welt- und Selbstbeobachtung entsprungen, zeigen den Umfang
ihrer poetischen Kraft, die Vielseitigkeit ihrer inneren Beziehungen.

Auf ihre landschaftlichen Gemälde richten wir zuerst den Blick. Die hei¬
mische Haide des Münsterlandes und die Alpenwelt der Schweiz bilden fast
ausschließlich die Gegenstände ihrer dichterischen Zeichnung. Wie es in der Natur
dieser landschaftlichen Gegensätze liegt, ist die Stimmung der Dichterin hier und
dort eine sehr verschiedene. Die Monotonie der Haide, die unbestimmte Gleich¬
mäßigkeit ihrer Färbung, die Nebel, die sich über sie hinziehen, wecken in ihrer
Seele ahnungsvolle Empfindungen, versetzen sie in Zustände eines gewissen Hell¬
sehens, in denen Vergangenheit und Zukunft ihr im Dämmerlichte erscheinen;
düstere, schwankende Gestalten beleben in Hr die Mythen, zu denen sich die
Naturvorgänge im Volksbewußtsein verdichtet haben. So tritt in dem Gedichte
„Die Mergelgrube" der ewige Wechsel zwischen Entstehen und Vergehen erschüt¬
ternd vor ihr inneres Auge; die Anfänge und Ausgänge des irdischen Seins
ziehen an der Träumender vorüber:


Vor mir, um mich der graue Mergel nur,
Was drüber, sah ich uichtl doch die Natur
schien mir verödet, und ein Bild erstand
Von einer Erde, mürbe, ausgebrannt;
Ich selber schien ein Funken mir, der doch
Erzittert in der todten Asche noch,
Ein Findling im zerfcillnen Weltenbau,
Die Wolke theilte sich, der Wind ward lau;
Mein Haupt nicht wagt' ich aus dem Hodl zu strecken,
Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken,
Wie Neues quoll, und Altes sich zersetzte —
War ich der erste Mensch oder der letzte?

Im „Haidemann" ist es der Abendnebel, der sich über den Haidegrund legt,
und die mannigfaltigen Bildungen und Farbenwechsel desselben, die sie in An¬
schauung und Ahnung der Haidebewohner uns vergegenwärtigt. „Geht Kinder
nicht zu weit ins Bruch", ist der Mutter erste Mahnung, da die Sonne sinkt.
Dann lautet sie dringender: „Ihr Kinder legt euch nicht ins Gras, der Haide¬
mann schwillt," und dann von neuem: „ihr Kinder haltet euch bei Haus, der
Haidemann brant", „ihr Kinder kommt, kommt schnell herein, der Haidemann
zieht". Dann ein neues Bild:


Es siedet auf, es färbt die Wellen,
Der Nord, der Nord entzündet sich —
Glutpfeile, Feuerspeere schnellen,
Der Horizont ein Lavastrich

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[0249] schaftsbilder, eine große Zahl von Balladen, sowie einige poetische Erzählungen, viele Gedichte, aus Welt- und Selbstbeobachtung entsprungen, zeigen den Umfang ihrer poetischen Kraft, die Vielseitigkeit ihrer inneren Beziehungen. Auf ihre landschaftlichen Gemälde richten wir zuerst den Blick. Die hei¬ mische Haide des Münsterlandes und die Alpenwelt der Schweiz bilden fast ausschließlich die Gegenstände ihrer dichterischen Zeichnung. Wie es in der Natur dieser landschaftlichen Gegensätze liegt, ist die Stimmung der Dichterin hier und dort eine sehr verschiedene. Die Monotonie der Haide, die unbestimmte Gleich¬ mäßigkeit ihrer Färbung, die Nebel, die sich über sie hinziehen, wecken in ihrer Seele ahnungsvolle Empfindungen, versetzen sie in Zustände eines gewissen Hell¬ sehens, in denen Vergangenheit und Zukunft ihr im Dämmerlichte erscheinen; düstere, schwankende Gestalten beleben in Hr die Mythen, zu denen sich die Naturvorgänge im Volksbewußtsein verdichtet haben. So tritt in dem Gedichte „Die Mergelgrube" der ewige Wechsel zwischen Entstehen und Vergehen erschüt¬ ternd vor ihr inneres Auge; die Anfänge und Ausgänge des irdischen Seins ziehen an der Träumender vorüber: Vor mir, um mich der graue Mergel nur, Was drüber, sah ich uichtl doch die Natur schien mir verödet, und ein Bild erstand Von einer Erde, mürbe, ausgebrannt; Ich selber schien ein Funken mir, der doch Erzittert in der todten Asche noch, Ein Findling im zerfcillnen Weltenbau, Die Wolke theilte sich, der Wind ward lau; Mein Haupt nicht wagt' ich aus dem Hodl zu strecken, Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken, Wie Neues quoll, und Altes sich zersetzte — War ich der erste Mensch oder der letzte? Im „Haidemann" ist es der Abendnebel, der sich über den Haidegrund legt, und die mannigfaltigen Bildungen und Farbenwechsel desselben, die sie in An¬ schauung und Ahnung der Haidebewohner uns vergegenwärtigt. „Geht Kinder nicht zu weit ins Bruch", ist der Mutter erste Mahnung, da die Sonne sinkt. Dann lautet sie dringender: „Ihr Kinder legt euch nicht ins Gras, der Haide¬ mann schwillt," und dann von neuem: „ihr Kinder haltet euch bei Haus, der Haidemann brant", „ihr Kinder kommt, kommt schnell herein, der Haidemann zieht". Dann ein neues Bild: Es siedet auf, es färbt die Wellen, Der Nord, der Nord entzündet sich — Glutpfeile, Feuerspeere schnellen, Der Horizont ein Lavastrich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/249>, abgerufen am 03.07.2024.