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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Ende 1876 war in Bombay und Madras unter 23 Millionen Einwohnern
nur ein Sechzehntel einer Durchschnitts ernte erzielt worden. Eisenbahnen und
gute Chausseen durchziehen daselbst das Land. Während die Regierung 1873
9 Millionen Centner Reis in Hinterindien kaufte und auf 50000 Ochsenkarren
sowie durch schleunige Anlage einer schmalspurigen Eisenbahn in die bedrohten
Bezirke, reinlich'in das nordwestliche Bengalen schaffte, konnte sie 1876 die Be¬
schaffung der Nahrung dem Privathandel überlassen und hatte nur durch Arbeits¬
vertheilung und Almosen einzugreifen. Im Juli 1877 wurden täglich l^" Mil¬
lionen Menschen durch Almosen, 1^ Millionen durch Arbeit an Nothbauten unter¬
stützt. Erst im Januar 1878 konnte diese Hungersnoth als beendigt gelten. Die
englische Regierung gab 195 Millionen Mark an Unterstützungen aus, dennoch
war die Sterblichkeit groß. Es erlagen 1300000 der Bevölkerung den Ent¬
behrungen. In allen bevölkerten Gegenden ohne Verkehrswege sind periodische
Hungersnöthe unvermeidlich. Persien verlor dadurch 1870--72 nicht weniger
als V" seiner Einwohner. In Kleinasien erlagen 1873--75 in Folge der
Dürre in Angora 2^ Millionen Stück Pferde und Hornvieh, darunter 528000
Ziegen. Zwischen 6000--20000 schwebt die Zahl derer, die in den einzelnen
Provinzen den Hungertod starben. Im Jahre 1877 brach in den Provin¬
zen Schensi, Schansi, Honan in China unter einer Bevölkerung von 56 Millionen
ein fürchterlicher Nothstand aus, der nun schon seit zwei Jahren anhält. Die
Regierung bewilligte Gelder, aber Mangel an Verkehrswegen und Ueberfluß
an gewissenlosen Beamten stumpfte die Wirkung ab. Die Verluste an Menschen¬
leben sind in solchen Zeiten nach vielen Millionen zu taxiren, ohne daß in
Europa etwas Näheres, ja sogar im Lande selbst, etwas statistisch durchaus
Sicheres bekannt würde. Die gräßlichen Hungersnöthe unter den Beduinen¬
stämmen in Afrika und Arabien, die von einem Volke oft25--30°/" decimiren,
sind gewiß wenigstens oberflächlich dem Leser bekannt. Keinesfalls werden
Hungersnöthe einen Grund abgeben, weshalb die Hindu gegen England revolu-
tioniren sollten.

Rußland hat, um von der äußersten Grenze seines Reichs durch Turkestan
nach der Grenze Afghanistans zu kommen, also von Orenburg bis Herat, etwa
einen Weg zu machen, der annähernd der Entfernung zwischen Odessa und Paris
entsprechen würde. Die Schwierigkeiten des Transportes und der Verpflegung
einer großen Armee sind hier gradezu unsäglich. In der Jahressitzung der
Londoner königlichen geographischen Gesellschaft vom 22. Mai 1865 hielt der
Präsident der Gesellschaft, Roderich Murchison, einen Vortrag über die mittel¬
asiatische Frage. "Ich möchte", sagte er, "jenen meiner Landsleute, welche die
Karte Asiens nur in einem Maßstabe von hundert Meilen auf den Zoll studiren,
die abgeschmackte Idee rauben, daß der Kaiser von Rußland, wenn er den un-


Ende 1876 war in Bombay und Madras unter 23 Millionen Einwohnern
nur ein Sechzehntel einer Durchschnitts ernte erzielt worden. Eisenbahnen und
gute Chausseen durchziehen daselbst das Land. Während die Regierung 1873
9 Millionen Centner Reis in Hinterindien kaufte und auf 50000 Ochsenkarren
sowie durch schleunige Anlage einer schmalspurigen Eisenbahn in die bedrohten
Bezirke, reinlich'in das nordwestliche Bengalen schaffte, konnte sie 1876 die Be¬
schaffung der Nahrung dem Privathandel überlassen und hatte nur durch Arbeits¬
vertheilung und Almosen einzugreifen. Im Juli 1877 wurden täglich l^« Mil¬
lionen Menschen durch Almosen, 1^ Millionen durch Arbeit an Nothbauten unter¬
stützt. Erst im Januar 1878 konnte diese Hungersnoth als beendigt gelten. Die
englische Regierung gab 195 Millionen Mark an Unterstützungen aus, dennoch
war die Sterblichkeit groß. Es erlagen 1300000 der Bevölkerung den Ent¬
behrungen. In allen bevölkerten Gegenden ohne Verkehrswege sind periodische
Hungersnöthe unvermeidlich. Persien verlor dadurch 1870—72 nicht weniger
als V« seiner Einwohner. In Kleinasien erlagen 1873—75 in Folge der
Dürre in Angora 2^ Millionen Stück Pferde und Hornvieh, darunter 528000
Ziegen. Zwischen 6000—20000 schwebt die Zahl derer, die in den einzelnen
Provinzen den Hungertod starben. Im Jahre 1877 brach in den Provin¬
zen Schensi, Schansi, Honan in China unter einer Bevölkerung von 56 Millionen
ein fürchterlicher Nothstand aus, der nun schon seit zwei Jahren anhält. Die
Regierung bewilligte Gelder, aber Mangel an Verkehrswegen und Ueberfluß
an gewissenlosen Beamten stumpfte die Wirkung ab. Die Verluste an Menschen¬
leben sind in solchen Zeiten nach vielen Millionen zu taxiren, ohne daß in
Europa etwas Näheres, ja sogar im Lande selbst, etwas statistisch durchaus
Sicheres bekannt würde. Die gräßlichen Hungersnöthe unter den Beduinen¬
stämmen in Afrika und Arabien, die von einem Volke oft25—30°/„ decimiren,
sind gewiß wenigstens oberflächlich dem Leser bekannt. Keinesfalls werden
Hungersnöthe einen Grund abgeben, weshalb die Hindu gegen England revolu-
tioniren sollten.

Rußland hat, um von der äußersten Grenze seines Reichs durch Turkestan
nach der Grenze Afghanistans zu kommen, also von Orenburg bis Herat, etwa
einen Weg zu machen, der annähernd der Entfernung zwischen Odessa und Paris
entsprechen würde. Die Schwierigkeiten des Transportes und der Verpflegung
einer großen Armee sind hier gradezu unsäglich. In der Jahressitzung der
Londoner königlichen geographischen Gesellschaft vom 22. Mai 1865 hielt der
Präsident der Gesellschaft, Roderich Murchison, einen Vortrag über die mittel¬
asiatische Frage. „Ich möchte", sagte er, „jenen meiner Landsleute, welche die
Karte Asiens nur in einem Maßstabe von hundert Meilen auf den Zoll studiren,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/240>, abgerufen am 22.07.2024.