Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

reatum Rawlinsons zu sein. Ehe wir die Stimmen der into-brittischen Behörden
über diese Angelegenheit hören, wollen wir selbst kurz auf einiges Thatsächliche,
das uns wesentlich hierher zu gehören scheint, aufmerksam machen.

Nach den neuesten Mittheilungen hat das brittische Kaiserreich in Indien,
einschließlich Brittisch-Birma, 69033 Quadratmeilen mit 239404600 Einwohnern.
Hiervon kommen 26279 Qu.-M. mit ca. 48 Millionen Einw. auf Tributär-
staaten, so daß sich faktisch 42 753 Qu.-M. mit über 191 Millionen Einwohnern
in brittischen Besitz befinden. In den Vasallenstaaten brachten die Sammlungen
für die Türken 1877 unter den etwa 40 Millionen Muselmännern mehr als
2 Millionen Mark auf (2 Millionen Mark war der Betrag aus Brittisch-Indien
zu gleichem Zweck), Hierbei ist zu bemerken, daß die muselmännischen Elemente
ausMfghanistan und Beludschistan sich hauptsächlich in die westlichen Grenztheile
Indiens eingebürgert haben. Die Aufregung unter der muselmännischen Be¬
völkerung zur Zeit des letzten Türkenkrieges theilte sich auch der indischen mit,
so daß ein Preßgesetz (indisches Censurgesetz vom 14. März 1878) erlassen
wurde. Es kam in einzelnen Blättern zwar zu aufreizenden Artikeln, welche
auf Vertreibung der Engländer hinzielten, allein eine größere Bedeutung hatte
das ganze Treiben nicht. Die Schienenwege in Indien wurden von 1874--78
von 8869 auf 9795 Kilometer erweitert. Am 1. April 1878 hatte die indische
Feldarmee eine Stärke von 186000 Combattanten, darunter 6000 europäische
Offiziere, 60000 englische Soldaten, 120000 Eingeborene; 43 Feldbatterien
sühren 258 neunpfündige Hinterlader. Was auch immer England an Indien
gesündigt haben mag, die Zeiten, welche Macaulay beschreibt, existiren nicht
mehr, und will man England Gerechtigkeit widerfahren lassen, so kann dies
nur unter Berücksichtigung der ungeheuren Schwierigkeiten geschehen, welche die
Civilisation eines Landes von fast einer Viertelmilliarde Einwohnern erfordert.
Der triviale Vorwurf der wiederkehrenden Hungersnöthe reicht gar nicht aus,
denn, als die indische Regierung mit Recht am 12. Aug. 1877 beschloß, die
Wiederkehr der Hungersnöthe als Regel, als ordentliche Ausgabe im Budget
zu behandeln, bewies sie damit, daß sie das Auftreten der Hungersnöthe als
Ereignisse elementarer Gewalten auffaßte. Es sollte jeder, der sich zum Tadel
hierüber berufen fühlt, vorher prüfen, ob er etwas besseres als jenen weisen
Beschluß vorerst zur Abhilfe vorzubringen im Stande wäre. Das Gesammtdesicit
der drei Jahre 1876--79 ist zu 321 Millionen Mark berechnet, wovon 264
Mill. M. zu Nothbauten an Eisenbahnen, Canälen, Straßen in. wieder ertrags¬
fähig werden. Im Uebrigen ist es eine Thatsache, daß die indische Verwaltung
meist mit Deficit gearbeitet hat. Aber England weiß wohl, daß dieser direkte
Nachtheil durch indirekte Vortheile des Handels und der Vermehrung des briti¬
schen Nationalreichthums wieder aufgewogen wird.


reatum Rawlinsons zu sein. Ehe wir die Stimmen der into-brittischen Behörden
über diese Angelegenheit hören, wollen wir selbst kurz auf einiges Thatsächliche,
das uns wesentlich hierher zu gehören scheint, aufmerksam machen.

Nach den neuesten Mittheilungen hat das brittische Kaiserreich in Indien,
einschließlich Brittisch-Birma, 69033 Quadratmeilen mit 239404600 Einwohnern.
Hiervon kommen 26279 Qu.-M. mit ca. 48 Millionen Einw. auf Tributär-
staaten, so daß sich faktisch 42 753 Qu.-M. mit über 191 Millionen Einwohnern
in brittischen Besitz befinden. In den Vasallenstaaten brachten die Sammlungen
für die Türken 1877 unter den etwa 40 Millionen Muselmännern mehr als
2 Millionen Mark auf (2 Millionen Mark war der Betrag aus Brittisch-Indien
zu gleichem Zweck), Hierbei ist zu bemerken, daß die muselmännischen Elemente
ausMfghanistan und Beludschistan sich hauptsächlich in die westlichen Grenztheile
Indiens eingebürgert haben. Die Aufregung unter der muselmännischen Be¬
völkerung zur Zeit des letzten Türkenkrieges theilte sich auch der indischen mit,
so daß ein Preßgesetz (indisches Censurgesetz vom 14. März 1878) erlassen
wurde. Es kam in einzelnen Blättern zwar zu aufreizenden Artikeln, welche
auf Vertreibung der Engländer hinzielten, allein eine größere Bedeutung hatte
das ganze Treiben nicht. Die Schienenwege in Indien wurden von 1874—78
von 8869 auf 9795 Kilometer erweitert. Am 1. April 1878 hatte die indische
Feldarmee eine Stärke von 186000 Combattanten, darunter 6000 europäische
Offiziere, 60000 englische Soldaten, 120000 Eingeborene; 43 Feldbatterien
sühren 258 neunpfündige Hinterlader. Was auch immer England an Indien
gesündigt haben mag, die Zeiten, welche Macaulay beschreibt, existiren nicht
mehr, und will man England Gerechtigkeit widerfahren lassen, so kann dies
nur unter Berücksichtigung der ungeheuren Schwierigkeiten geschehen, welche die
Civilisation eines Landes von fast einer Viertelmilliarde Einwohnern erfordert.
Der triviale Vorwurf der wiederkehrenden Hungersnöthe reicht gar nicht aus,
denn, als die indische Regierung mit Recht am 12. Aug. 1877 beschloß, die
Wiederkehr der Hungersnöthe als Regel, als ordentliche Ausgabe im Budget
zu behandeln, bewies sie damit, daß sie das Auftreten der Hungersnöthe als
Ereignisse elementarer Gewalten auffaßte. Es sollte jeder, der sich zum Tadel
hierüber berufen fühlt, vorher prüfen, ob er etwas besseres als jenen weisen
Beschluß vorerst zur Abhilfe vorzubringen im Stande wäre. Das Gesammtdesicit
der drei Jahre 1876—79 ist zu 321 Millionen Mark berechnet, wovon 264
Mill. M. zu Nothbauten an Eisenbahnen, Canälen, Straßen in. wieder ertrags¬
fähig werden. Im Uebrigen ist es eine Thatsache, daß die indische Verwaltung
meist mit Deficit gearbeitet hat. Aber England weiß wohl, daß dieser direkte
Nachtheil durch indirekte Vortheile des Handels und der Vermehrung des briti¬
schen Nationalreichthums wieder aufgewogen wird.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0239" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/146744"/>
          <p xml:id="ID_713" prev="#ID_712"> reatum Rawlinsons zu sein. Ehe wir die Stimmen der into-brittischen Behörden<lb/>
über diese Angelegenheit hören, wollen wir selbst kurz auf einiges Thatsächliche,<lb/>
das uns wesentlich hierher zu gehören scheint, aufmerksam machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_714"> Nach den neuesten Mittheilungen hat das brittische Kaiserreich in Indien,<lb/>
einschließlich Brittisch-Birma, 69033 Quadratmeilen mit 239404600 Einwohnern.<lb/>
Hiervon kommen 26279 Qu.-M. mit ca. 48 Millionen Einw. auf Tributär-<lb/>
staaten, so daß sich faktisch 42 753 Qu.-M. mit über 191 Millionen Einwohnern<lb/>
in brittischen Besitz befinden. In den Vasallenstaaten brachten die Sammlungen<lb/>
für die Türken 1877 unter den etwa 40 Millionen Muselmännern mehr als<lb/>
2 Millionen Mark auf (2 Millionen Mark war der Betrag aus Brittisch-Indien<lb/>
zu gleichem Zweck), Hierbei ist zu bemerken, daß die muselmännischen Elemente<lb/>
ausMfghanistan und Beludschistan sich hauptsächlich in die westlichen Grenztheile<lb/>
Indiens eingebürgert haben. Die Aufregung unter der muselmännischen Be¬<lb/>
völkerung zur Zeit des letzten Türkenkrieges theilte sich auch der indischen mit,<lb/>
so daß ein Preßgesetz (indisches Censurgesetz vom 14. März 1878) erlassen<lb/>
wurde. Es kam in einzelnen Blättern zwar zu aufreizenden Artikeln, welche<lb/>
auf Vertreibung der Engländer hinzielten, allein eine größere Bedeutung hatte<lb/>
das ganze Treiben nicht. Die Schienenwege in Indien wurden von 1874&#x2014;78<lb/>
von 8869 auf 9795 Kilometer erweitert. Am 1. April 1878 hatte die indische<lb/>
Feldarmee eine Stärke von 186000 Combattanten, darunter 6000 europäische<lb/>
Offiziere, 60000 englische Soldaten, 120000 Eingeborene; 43 Feldbatterien<lb/>
sühren 258 neunpfündige Hinterlader. Was auch immer England an Indien<lb/>
gesündigt haben mag, die Zeiten, welche Macaulay beschreibt, existiren nicht<lb/>
mehr, und will man England Gerechtigkeit widerfahren lassen, so kann dies<lb/>
nur unter Berücksichtigung der ungeheuren Schwierigkeiten geschehen, welche die<lb/>
Civilisation eines Landes von fast einer Viertelmilliarde Einwohnern erfordert.<lb/>
Der triviale Vorwurf der wiederkehrenden Hungersnöthe reicht gar nicht aus,<lb/>
denn, als die indische Regierung mit Recht am 12. Aug. 1877 beschloß, die<lb/>
Wiederkehr der Hungersnöthe als Regel, als ordentliche Ausgabe im Budget<lb/>
zu behandeln, bewies sie damit, daß sie das Auftreten der Hungersnöthe als<lb/>
Ereignisse elementarer Gewalten auffaßte. Es sollte jeder, der sich zum Tadel<lb/>
hierüber berufen fühlt, vorher prüfen, ob er etwas besseres als jenen weisen<lb/>
Beschluß vorerst zur Abhilfe vorzubringen im Stande wäre. Das Gesammtdesicit<lb/>
der drei Jahre 1876&#x2014;79 ist zu 321 Millionen Mark berechnet, wovon 264<lb/>
Mill. M. zu Nothbauten an Eisenbahnen, Canälen, Straßen in. wieder ertrags¬<lb/>
fähig werden. Im Uebrigen ist es eine Thatsache, daß die indische Verwaltung<lb/>
meist mit Deficit gearbeitet hat. Aber England weiß wohl, daß dieser direkte<lb/>
Nachtheil durch indirekte Vortheile des Handels und der Vermehrung des briti¬<lb/>
schen Nationalreichthums wieder aufgewogen wird.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0239] reatum Rawlinsons zu sein. Ehe wir die Stimmen der into-brittischen Behörden über diese Angelegenheit hören, wollen wir selbst kurz auf einiges Thatsächliche, das uns wesentlich hierher zu gehören scheint, aufmerksam machen. Nach den neuesten Mittheilungen hat das brittische Kaiserreich in Indien, einschließlich Brittisch-Birma, 69033 Quadratmeilen mit 239404600 Einwohnern. Hiervon kommen 26279 Qu.-M. mit ca. 48 Millionen Einw. auf Tributär- staaten, so daß sich faktisch 42 753 Qu.-M. mit über 191 Millionen Einwohnern in brittischen Besitz befinden. In den Vasallenstaaten brachten die Sammlungen für die Türken 1877 unter den etwa 40 Millionen Muselmännern mehr als 2 Millionen Mark auf (2 Millionen Mark war der Betrag aus Brittisch-Indien zu gleichem Zweck), Hierbei ist zu bemerken, daß die muselmännischen Elemente ausMfghanistan und Beludschistan sich hauptsächlich in die westlichen Grenztheile Indiens eingebürgert haben. Die Aufregung unter der muselmännischen Be¬ völkerung zur Zeit des letzten Türkenkrieges theilte sich auch der indischen mit, so daß ein Preßgesetz (indisches Censurgesetz vom 14. März 1878) erlassen wurde. Es kam in einzelnen Blättern zwar zu aufreizenden Artikeln, welche auf Vertreibung der Engländer hinzielten, allein eine größere Bedeutung hatte das ganze Treiben nicht. Die Schienenwege in Indien wurden von 1874—78 von 8869 auf 9795 Kilometer erweitert. Am 1. April 1878 hatte die indische Feldarmee eine Stärke von 186000 Combattanten, darunter 6000 europäische Offiziere, 60000 englische Soldaten, 120000 Eingeborene; 43 Feldbatterien sühren 258 neunpfündige Hinterlader. Was auch immer England an Indien gesündigt haben mag, die Zeiten, welche Macaulay beschreibt, existiren nicht mehr, und will man England Gerechtigkeit widerfahren lassen, so kann dies nur unter Berücksichtigung der ungeheuren Schwierigkeiten geschehen, welche die Civilisation eines Landes von fast einer Viertelmilliarde Einwohnern erfordert. Der triviale Vorwurf der wiederkehrenden Hungersnöthe reicht gar nicht aus, denn, als die indische Regierung mit Recht am 12. Aug. 1877 beschloß, die Wiederkehr der Hungersnöthe als Regel, als ordentliche Ausgabe im Budget zu behandeln, bewies sie damit, daß sie das Auftreten der Hungersnöthe als Ereignisse elementarer Gewalten auffaßte. Es sollte jeder, der sich zum Tadel hierüber berufen fühlt, vorher prüfen, ob er etwas besseres als jenen weisen Beschluß vorerst zur Abhilfe vorzubringen im Stande wäre. Das Gesammtdesicit der drei Jahre 1876—79 ist zu 321 Millionen Mark berechnet, wovon 264 Mill. M. zu Nothbauten an Eisenbahnen, Canälen, Straßen in. wieder ertrags¬ fähig werden. Im Uebrigen ist es eine Thatsache, daß die indische Verwaltung meist mit Deficit gearbeitet hat. Aber England weiß wohl, daß dieser direkte Nachtheil durch indirekte Vortheile des Handels und der Vermehrung des briti¬ schen Nationalreichthums wieder aufgewogen wird.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/239
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/239>, abgerufen am 22.07.2024.