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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Angriffe bestehende Defensiv-Position einzunehmen. Ueber kurz oder lang, wenn
die Geduld erschöpft ist, wird sich die civilisirte Regierung gezwungen sehen, ent¬
weder die Barbaren zu unterwerfen, oder sich eine hinreichende Autorität über
sie zu sichern und ihren Widerstand derart zu brechen, daß sie von ihr abhängig
werden. Der ganze Norden von Hindostan ist auf diese Weise in langen,
blutigen, stetig die Macht der Engländer ausbreitenden Kämpfen mit den kleinen
Fürsten und Staaten Indiens den Engländern unterworfen worden. Die Kriege
mit den Emiren von Sindh, mit den Sikhs und Moslems, welche durch Dost-
Mohammed unterstützt wurden, die Einverleibung des Pendschab mit Kaschmir
und der Vasallenstaaten Nagpur, Nizam und Oudh erweiterten die englische
Herrschaft bis zum Himalaya, während gleichzeitig Birma in Hinterindien ab¬
hängig gemacht wurde. Wie die Engländer ihr Ansehen aufrecht erhielten, davon
kann auch der Proceß des Gaekwar von Baroda (nördlich von Bombay), den
M Jahre 1875 ein englisches Gericht verurteilte und entthronte, Zeugniß ab¬
legen. Die kürzlich erfolgte Eroberung Cabuls durch die Engländer hat die
letzteren fast zu directen Grenznachbarn Rußlands in Turkestan gemacht.

Wir haben im Vorstehenden nur zeigen wollen, daß, abgesehen von den
Zielen der hohen und großen Politik, wodurch die Völker bestimmt werden, sowohl
England (mit Rücksicht auf seine hauptsächlich bei Beginn dieses Jahrhunderts
begonnene und immer weiter fortschreitende Unterwerfung Indiens) als auch
Rußland (in Bezug auf die Unterwerfung Turkestans sowie anderer Länder)
von den gleichen elementaren Bedingungen stets weitergedrängt worden sind.
Fürst Gortschakoff hat in einem diplomatischen Rundschreiben vom 21. November
1864 in vorzüglicher Weise diese äußerlichen Bedingungen entwickelt. Dem
Kritiker bleibt nur übrig hinzuzufügen, was der russische Staatsmann, ebenso
wie später der englische (z. B. Lord Lytton oder Herr Rawlinson) verschwieg,
daß nämlich neben den äußeren Motiven stets als eine selbstverständliche und
auch hüben wie drüben nicht zu beargwöhnende rssErvg.die> mentalis der Grund¬
gedanke einherläuft: Beherrschung der asiatischen Völker. Rußland
braucht sich gar nicht zu verstecken. Es hat ein volles Recht für sich in An¬
spruch zu nehmen, von der Herrschaft über die Völker Asiens zu sprechen und
darüber bei ernsthaften Leuten Gehör zu verlangen, nur muß gleich hinzugefügt
werden, daß England ebenso gut dieses Herrscherwort für sich beanspruchen darf.

Gortschakoff sagt in dem erwähnten Rundschreiben Folgendes:

"Die Lage Rußlands in Centralasien ist die aller civilisirten Staaten, die
sich mit halbwilden, unseßhaften, jeder festen Organisation entbehrenden Völker¬
schaften in Contact befinden. In solchem Falle ereignet es sich stets, daß das
Interesse der Grenzsicherheit und der Handelsbeziehungen von dem civilisirteren
Staate die Ausübung eines Einflusses über seine Nachbarn fordert, die durch


Angriffe bestehende Defensiv-Position einzunehmen. Ueber kurz oder lang, wenn
die Geduld erschöpft ist, wird sich die civilisirte Regierung gezwungen sehen, ent¬
weder die Barbaren zu unterwerfen, oder sich eine hinreichende Autorität über
sie zu sichern und ihren Widerstand derart zu brechen, daß sie von ihr abhängig
werden. Der ganze Norden von Hindostan ist auf diese Weise in langen,
blutigen, stetig die Macht der Engländer ausbreitenden Kämpfen mit den kleinen
Fürsten und Staaten Indiens den Engländern unterworfen worden. Die Kriege
mit den Emiren von Sindh, mit den Sikhs und Moslems, welche durch Dost-
Mohammed unterstützt wurden, die Einverleibung des Pendschab mit Kaschmir
und der Vasallenstaaten Nagpur, Nizam und Oudh erweiterten die englische
Herrschaft bis zum Himalaya, während gleichzeitig Birma in Hinterindien ab¬
hängig gemacht wurde. Wie die Engländer ihr Ansehen aufrecht erhielten, davon
kann auch der Proceß des Gaekwar von Baroda (nördlich von Bombay), den
M Jahre 1875 ein englisches Gericht verurteilte und entthronte, Zeugniß ab¬
legen. Die kürzlich erfolgte Eroberung Cabuls durch die Engländer hat die
letzteren fast zu directen Grenznachbarn Rußlands in Turkestan gemacht.

Wir haben im Vorstehenden nur zeigen wollen, daß, abgesehen von den
Zielen der hohen und großen Politik, wodurch die Völker bestimmt werden, sowohl
England (mit Rücksicht auf seine hauptsächlich bei Beginn dieses Jahrhunderts
begonnene und immer weiter fortschreitende Unterwerfung Indiens) als auch
Rußland (in Bezug auf die Unterwerfung Turkestans sowie anderer Länder)
von den gleichen elementaren Bedingungen stets weitergedrängt worden sind.
Fürst Gortschakoff hat in einem diplomatischen Rundschreiben vom 21. November
1864 in vorzüglicher Weise diese äußerlichen Bedingungen entwickelt. Dem
Kritiker bleibt nur übrig hinzuzufügen, was der russische Staatsmann, ebenso
wie später der englische (z. B. Lord Lytton oder Herr Rawlinson) verschwieg,
daß nämlich neben den äußeren Motiven stets als eine selbstverständliche und
auch hüben wie drüben nicht zu beargwöhnende rssErvg.die> mentalis der Grund¬
gedanke einherläuft: Beherrschung der asiatischen Völker. Rußland
braucht sich gar nicht zu verstecken. Es hat ein volles Recht für sich in An¬
spruch zu nehmen, von der Herrschaft über die Völker Asiens zu sprechen und
darüber bei ernsthaften Leuten Gehör zu verlangen, nur muß gleich hinzugefügt
werden, daß England ebenso gut dieses Herrscherwort für sich beanspruchen darf.

Gortschakoff sagt in dem erwähnten Rundschreiben Folgendes:

„Die Lage Rußlands in Centralasien ist die aller civilisirten Staaten, die
sich mit halbwilden, unseßhaften, jeder festen Organisation entbehrenden Völker¬
schaften in Contact befinden. In solchem Falle ereignet es sich stets, daß das
Interesse der Grenzsicherheit und der Handelsbeziehungen von dem civilisirteren
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[0233] Angriffe bestehende Defensiv-Position einzunehmen. Ueber kurz oder lang, wenn die Geduld erschöpft ist, wird sich die civilisirte Regierung gezwungen sehen, ent¬ weder die Barbaren zu unterwerfen, oder sich eine hinreichende Autorität über sie zu sichern und ihren Widerstand derart zu brechen, daß sie von ihr abhängig werden. Der ganze Norden von Hindostan ist auf diese Weise in langen, blutigen, stetig die Macht der Engländer ausbreitenden Kämpfen mit den kleinen Fürsten und Staaten Indiens den Engländern unterworfen worden. Die Kriege mit den Emiren von Sindh, mit den Sikhs und Moslems, welche durch Dost- Mohammed unterstützt wurden, die Einverleibung des Pendschab mit Kaschmir und der Vasallenstaaten Nagpur, Nizam und Oudh erweiterten die englische Herrschaft bis zum Himalaya, während gleichzeitig Birma in Hinterindien ab¬ hängig gemacht wurde. Wie die Engländer ihr Ansehen aufrecht erhielten, davon kann auch der Proceß des Gaekwar von Baroda (nördlich von Bombay), den M Jahre 1875 ein englisches Gericht verurteilte und entthronte, Zeugniß ab¬ legen. Die kürzlich erfolgte Eroberung Cabuls durch die Engländer hat die letzteren fast zu directen Grenznachbarn Rußlands in Turkestan gemacht. Wir haben im Vorstehenden nur zeigen wollen, daß, abgesehen von den Zielen der hohen und großen Politik, wodurch die Völker bestimmt werden, sowohl England (mit Rücksicht auf seine hauptsächlich bei Beginn dieses Jahrhunderts begonnene und immer weiter fortschreitende Unterwerfung Indiens) als auch Rußland (in Bezug auf die Unterwerfung Turkestans sowie anderer Länder) von den gleichen elementaren Bedingungen stets weitergedrängt worden sind. Fürst Gortschakoff hat in einem diplomatischen Rundschreiben vom 21. November 1864 in vorzüglicher Weise diese äußerlichen Bedingungen entwickelt. Dem Kritiker bleibt nur übrig hinzuzufügen, was der russische Staatsmann, ebenso wie später der englische (z. B. Lord Lytton oder Herr Rawlinson) verschwieg, daß nämlich neben den äußeren Motiven stets als eine selbstverständliche und auch hüben wie drüben nicht zu beargwöhnende rssErvg.die> mentalis der Grund¬ gedanke einherläuft: Beherrschung der asiatischen Völker. Rußland braucht sich gar nicht zu verstecken. Es hat ein volles Recht für sich in An¬ spruch zu nehmen, von der Herrschaft über die Völker Asiens zu sprechen und darüber bei ernsthaften Leuten Gehör zu verlangen, nur muß gleich hinzugefügt werden, daß England ebenso gut dieses Herrscherwort für sich beanspruchen darf. Gortschakoff sagt in dem erwähnten Rundschreiben Folgendes: „Die Lage Rußlands in Centralasien ist die aller civilisirten Staaten, die sich mit halbwilden, unseßhaften, jeder festen Organisation entbehrenden Völker¬ schaften in Contact befinden. In solchem Falle ereignet es sich stets, daß das Interesse der Grenzsicherheit und der Handelsbeziehungen von dem civilisirteren Staate die Ausübung eines Einflusses über seine Nachbarn fordert, die durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/233>, abgerufen am 22.07.2024.