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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Umstand hinzu, daß sie seit dem 30jährigen Kriege für lange Zeit in deutschen
Gauen seßhaft waren und mit dem Deutschthum in engste Berührung traten-

Eine eigenthümliche, aber wichtige Stellung in der älteren skandinavischen
Literatur nehmen die Isländer ein; sie sind geradezu die Träger der alten
Literatur. Man ist in Deutschland gerade über dieses hochbedeutsame und
interessante Völkchen so wenig unterrichtet, daß einige Bemerkungen über das¬
selbe willkommen sein werden. Island, ein ödes, aber fisch- und vogelreiches
Vulkan- und Gletschergebirgsland von mehr als 1800 Quadratmeilen, gegen¬
wärtig baumlos, vor 1000 Jahren aber zwischen Gestade und Gebirge bewaldet,
nur an den Küsten und in den Flußthälern bewohnbar, war ursprünglich sicher¬
lich unbewohnt. Die ersten Ansiedler (Ende des 8. Jahrh, n. Chr.) waren
irische Mönche, die aber, als Skandinavien in großen Massen hinüber zogen,
um nicht mit heidnischen Männern zusammen leben zu müssen, von der Insel
wegzogen. Darnach gelangten zunächst einzelne von Stürmen verschlagene Nord¬
länder dahin. Sie brachten verlockende, zum Theil freilich übertriebene Kunde
von dieser weit draußen im Westmeere gelegenen Insel in ihre Stammläuder
zurück. Der erste stündige Ansiedler war Ingolf aus Norwegen, der sich an¬
fangs an der Südostküste niederließ, dann aber im Westen, in der Gegend von
Reykjavik seinen dauernden Wohnsitz aufschlug (874). Ihm folgten bald große
Schaaren von Landsleuten nach, überwiegend Norweger, aber auch Leute aus
anderen skandinavischen Gegenden. In den ersten 60 Jahren wurde die Insel
vollständig besiedelt. Sie zählte damals schon eben so viele Einwohner, wie
jetzt; blutige Fehden, Seuchen und sonstige Unfälle standen der Erhöhung der
Bevölkerungsziffer im Wege. Nach wilden, stürmischen Reibereien und längerem
gesetzlosem Leben bildete man endlich einen Freistaat nach dem Muster des
heimatlichen. Im Jahre 1264 kam das Land unter die Krone Norwegens
und mit ihm zusammen etwa 120 Jahre später an Dänemark, bei dem es auch
bei der Theilung von 1814 verblieb. Wesentlich ist nun aber Folgendes: die¬
jenigen Männer, welche aus Norwegen nach Island zogen, waren die höchste
Aristokratie des Landes, die reichsten, vornehmsten und vor allem intelligentesten
Leute, deren Freiheitsgefühl es widersprach, sich der Alleinherrschaft des Harald
Haarschön (861--931) zu fügen, der ja zuvor nichts anderes gewesen war, als
sie selbst: einer von den zahllosen kleinen, von einander unabhängigen Herren
und Fürsten, die das damalige Norwegen bewohnten. Auf diesen Umstand ist
es zurückzuführen, wenn die jetzigen Nachkommen auf einer höheren Bildungs¬
stufe stehen, als irgend welches Volk unter gleichem Breitengrade, auf einer
Bildungsstufe fogar, die der unsrigen in nichts nachsteht. Und das ist bewun-
derswerth, wenn man bedenkt, wie ungastlich der Boden ist, auf dem die
Isländer leben, wie abgelegen sie von der übrigen civilisirten Welt sind und


Umstand hinzu, daß sie seit dem 30jährigen Kriege für lange Zeit in deutschen
Gauen seßhaft waren und mit dem Deutschthum in engste Berührung traten-

Eine eigenthümliche, aber wichtige Stellung in der älteren skandinavischen
Literatur nehmen die Isländer ein; sie sind geradezu die Träger der alten
Literatur. Man ist in Deutschland gerade über dieses hochbedeutsame und
interessante Völkchen so wenig unterrichtet, daß einige Bemerkungen über das¬
selbe willkommen sein werden. Island, ein ödes, aber fisch- und vogelreiches
Vulkan- und Gletschergebirgsland von mehr als 1800 Quadratmeilen, gegen¬
wärtig baumlos, vor 1000 Jahren aber zwischen Gestade und Gebirge bewaldet,
nur an den Küsten und in den Flußthälern bewohnbar, war ursprünglich sicher¬
lich unbewohnt. Die ersten Ansiedler (Ende des 8. Jahrh, n. Chr.) waren
irische Mönche, die aber, als Skandinavien in großen Massen hinüber zogen,
um nicht mit heidnischen Männern zusammen leben zu müssen, von der Insel
wegzogen. Darnach gelangten zunächst einzelne von Stürmen verschlagene Nord¬
länder dahin. Sie brachten verlockende, zum Theil freilich übertriebene Kunde
von dieser weit draußen im Westmeere gelegenen Insel in ihre Stammläuder
zurück. Der erste stündige Ansiedler war Ingolf aus Norwegen, der sich an¬
fangs an der Südostküste niederließ, dann aber im Westen, in der Gegend von
Reykjavik seinen dauernden Wohnsitz aufschlug (874). Ihm folgten bald große
Schaaren von Landsleuten nach, überwiegend Norweger, aber auch Leute aus
anderen skandinavischen Gegenden. In den ersten 60 Jahren wurde die Insel
vollständig besiedelt. Sie zählte damals schon eben so viele Einwohner, wie
jetzt; blutige Fehden, Seuchen und sonstige Unfälle standen der Erhöhung der
Bevölkerungsziffer im Wege. Nach wilden, stürmischen Reibereien und längerem
gesetzlosem Leben bildete man endlich einen Freistaat nach dem Muster des
heimatlichen. Im Jahre 1264 kam das Land unter die Krone Norwegens
und mit ihm zusammen etwa 120 Jahre später an Dänemark, bei dem es auch
bei der Theilung von 1814 verblieb. Wesentlich ist nun aber Folgendes: die¬
jenigen Männer, welche aus Norwegen nach Island zogen, waren die höchste
Aristokratie des Landes, die reichsten, vornehmsten und vor allem intelligentesten
Leute, deren Freiheitsgefühl es widersprach, sich der Alleinherrschaft des Harald
Haarschön (861—931) zu fügen, der ja zuvor nichts anderes gewesen war, als
sie selbst: einer von den zahllosen kleinen, von einander unabhängigen Herren
und Fürsten, die das damalige Norwegen bewohnten. Auf diesen Umstand ist
es zurückzuführen, wenn die jetzigen Nachkommen auf einer höheren Bildungs¬
stufe stehen, als irgend welches Volk unter gleichem Breitengrade, auf einer
Bildungsstufe fogar, die der unsrigen in nichts nachsteht. Und das ist bewun-
derswerth, wenn man bedenkt, wie ungastlich der Boden ist, auf dem die
Isländer leben, wie abgelegen sie von der übrigen civilisirten Welt sind und


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[0202] Umstand hinzu, daß sie seit dem 30jährigen Kriege für lange Zeit in deutschen Gauen seßhaft waren und mit dem Deutschthum in engste Berührung traten- Eine eigenthümliche, aber wichtige Stellung in der älteren skandinavischen Literatur nehmen die Isländer ein; sie sind geradezu die Träger der alten Literatur. Man ist in Deutschland gerade über dieses hochbedeutsame und interessante Völkchen so wenig unterrichtet, daß einige Bemerkungen über das¬ selbe willkommen sein werden. Island, ein ödes, aber fisch- und vogelreiches Vulkan- und Gletschergebirgsland von mehr als 1800 Quadratmeilen, gegen¬ wärtig baumlos, vor 1000 Jahren aber zwischen Gestade und Gebirge bewaldet, nur an den Küsten und in den Flußthälern bewohnbar, war ursprünglich sicher¬ lich unbewohnt. Die ersten Ansiedler (Ende des 8. Jahrh, n. Chr.) waren irische Mönche, die aber, als Skandinavien in großen Massen hinüber zogen, um nicht mit heidnischen Männern zusammen leben zu müssen, von der Insel wegzogen. Darnach gelangten zunächst einzelne von Stürmen verschlagene Nord¬ länder dahin. Sie brachten verlockende, zum Theil freilich übertriebene Kunde von dieser weit draußen im Westmeere gelegenen Insel in ihre Stammläuder zurück. Der erste stündige Ansiedler war Ingolf aus Norwegen, der sich an¬ fangs an der Südostküste niederließ, dann aber im Westen, in der Gegend von Reykjavik seinen dauernden Wohnsitz aufschlug (874). Ihm folgten bald große Schaaren von Landsleuten nach, überwiegend Norweger, aber auch Leute aus anderen skandinavischen Gegenden. In den ersten 60 Jahren wurde die Insel vollständig besiedelt. Sie zählte damals schon eben so viele Einwohner, wie jetzt; blutige Fehden, Seuchen und sonstige Unfälle standen der Erhöhung der Bevölkerungsziffer im Wege. Nach wilden, stürmischen Reibereien und längerem gesetzlosem Leben bildete man endlich einen Freistaat nach dem Muster des heimatlichen. Im Jahre 1264 kam das Land unter die Krone Norwegens und mit ihm zusammen etwa 120 Jahre später an Dänemark, bei dem es auch bei der Theilung von 1814 verblieb. Wesentlich ist nun aber Folgendes: die¬ jenigen Männer, welche aus Norwegen nach Island zogen, waren die höchste Aristokratie des Landes, die reichsten, vornehmsten und vor allem intelligentesten Leute, deren Freiheitsgefühl es widersprach, sich der Alleinherrschaft des Harald Haarschön (861—931) zu fügen, der ja zuvor nichts anderes gewesen war, als sie selbst: einer von den zahllosen kleinen, von einander unabhängigen Herren und Fürsten, die das damalige Norwegen bewohnten. Auf diesen Umstand ist es zurückzuführen, wenn die jetzigen Nachkommen auf einer höheren Bildungs¬ stufe stehen, als irgend welches Volk unter gleichem Breitengrade, auf einer Bildungsstufe fogar, die der unsrigen in nichts nachsteht. Und das ist bewun- derswerth, wenn man bedenkt, wie ungastlich der Boden ist, auf dem die Isländer leben, wie abgelegen sie von der übrigen civilisirten Welt sind und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/202>, abgerufen am 22.07.2024.