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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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in diesem Tohuwabohu Ordnung zu schaffen und ein gedeihliches Gemeindelebcn
zur Entwicklung zu bringen. Der Gemeindesäckel dient meistens dazu, den glau¬
benswüthigen Zeloten eine schneidige Waffe für ihren Kampfeseifer zu bieten, dumm¬
stolzen und ehrgeizigen Gemeindevorstehern den Hochmuth zu nähren und den zahl¬
reichen Troß lungernder Faullenzer, die aus der Religion einen Broterlverb machen,
zu unterhalten. Wirklich gebildeten Personen ist der Zutritt zu der Gemeindever¬
waltung verwehrt; denn niemals vermögen sie sich in der Gemeinde zur Geltung
zu bringen. Vor nicht gar langer Zeit, da der humane Geist moderner Gesetz¬
gebung in Rußland noch nicht herrschte (herrscht dieser Geist etwa jetzt dort?), und
der Glaubenseifer noch ungestraft seine Maulwurfsgänge graben durfte, war der
Kabak eine gar gefürchtete Institution, ein Zwing-Uri für alle im Glauben etwas
freier Wandelnden, die er seine Macht durch Bannflüche und Verweisung fühlen
ließ. Diese Zeiten sind jetzt vorüber, aber noch immer sind verknöcherter Unver¬
stand, Zelotismus und verjährter Schlendrian die Triebfedern vieler Gemeindever¬
waltungen, was nicht anders sein kann, so lange die Juden so compact wohnen,
und es noch keine mit corporativen Rechten und persönlicher juridischer Verantwort¬
lichkeit ausgestattete Gemeinde giebt, deren specielle Leitung gebildeten Personen
obliegt." So unser Gewährsmann Wiener, der uns mit den Folgen, die das com-
pacte Beisammenwohnen der Juden, ihre massenhafte Ansammlung an einem Orte
in einer bestimmten Gegend haben muß, recht anmuthige Aussichten eröffnet und
zugleich manche Erscheinung erklärt.

Nach andern Quellen giebt es anßer dem Kabak, den der ebengenannte Bericht¬
erstatter schildert, auch noch einen andern weit bedenklicheren, der die ganze pol¬
nische Judenschaft oder wenigstens einen großen Theil derselben zu umfassen und
sogar über unsere Grenze herüber zu wirken scheint.

In Meyers Conversationslexicon (3. Auflage, 9. Bd., S. 672) finden wir
einen Artikel, der sich auf Braphmcmns Schriften über den Gegenstand*) gründet
und folgendermaßen lautet: "Kagal (russisch für Kabak) ursprünglich der Ge¬
meinderath, welcher die Abgaben der Juden in Rußland für Armen- und Kranken¬
pflege u. tgi. zu bestimmen hatte. Allmählich entstand aus dieser Institution eine
Art Jesuitenorden, eine heimliche, systematisch geleitete Obrigkeit über alle jüdischen
Gemeinden des russischen Reiches und vielleicht auch über die Grenzen desselben
hinaus. Der Kagal dictirt, obgleich er officiell nicht in der obigen Form besteht,
nach Belieben Abgaben, um damit jüdische Interessen zu fördern; er regiert die
Commune, das Schulwesen, ja das Privatleben jeder jüdischen Familie. Er hält
das Eigenthum aller Nichtjuden für das allgemeine Eigenthum der
jüdischen Commune und legt sich das Recht bei, dasselbe zu vertheilen.
Infolge dessen verkauft er gegen Schein und Quittung das Recht, an¬
dere Individuen oder deren liegenden Besitz auszubeuten. Wer ein



*) "Der Kagal", Wilm, 1870, und "Die hebräischen Local- und allgemeinen Vereine,"
Petersburg, 1872.

in diesem Tohuwabohu Ordnung zu schaffen und ein gedeihliches Gemeindelebcn
zur Entwicklung zu bringen. Der Gemeindesäckel dient meistens dazu, den glau¬
benswüthigen Zeloten eine schneidige Waffe für ihren Kampfeseifer zu bieten, dumm¬
stolzen und ehrgeizigen Gemeindevorstehern den Hochmuth zu nähren und den zahl¬
reichen Troß lungernder Faullenzer, die aus der Religion einen Broterlverb machen,
zu unterhalten. Wirklich gebildeten Personen ist der Zutritt zu der Gemeindever¬
waltung verwehrt; denn niemals vermögen sie sich in der Gemeinde zur Geltung
zu bringen. Vor nicht gar langer Zeit, da der humane Geist moderner Gesetz¬
gebung in Rußland noch nicht herrschte (herrscht dieser Geist etwa jetzt dort?), und
der Glaubenseifer noch ungestraft seine Maulwurfsgänge graben durfte, war der
Kabak eine gar gefürchtete Institution, ein Zwing-Uri für alle im Glauben etwas
freier Wandelnden, die er seine Macht durch Bannflüche und Verweisung fühlen
ließ. Diese Zeiten sind jetzt vorüber, aber noch immer sind verknöcherter Unver¬
stand, Zelotismus und verjährter Schlendrian die Triebfedern vieler Gemeindever¬
waltungen, was nicht anders sein kann, so lange die Juden so compact wohnen,
und es noch keine mit corporativen Rechten und persönlicher juridischer Verantwort¬
lichkeit ausgestattete Gemeinde giebt, deren specielle Leitung gebildeten Personen
obliegt." So unser Gewährsmann Wiener, der uns mit den Folgen, die das com-
pacte Beisammenwohnen der Juden, ihre massenhafte Ansammlung an einem Orte
in einer bestimmten Gegend haben muß, recht anmuthige Aussichten eröffnet und
zugleich manche Erscheinung erklärt.

Nach andern Quellen giebt es anßer dem Kabak, den der ebengenannte Bericht¬
erstatter schildert, auch noch einen andern weit bedenklicheren, der die ganze pol¬
nische Judenschaft oder wenigstens einen großen Theil derselben zu umfassen und
sogar über unsere Grenze herüber zu wirken scheint.

In Meyers Conversationslexicon (3. Auflage, 9. Bd., S. 672) finden wir
einen Artikel, der sich auf Braphmcmns Schriften über den Gegenstand*) gründet
und folgendermaßen lautet: „Kagal (russisch für Kabak) ursprünglich der Ge¬
meinderath, welcher die Abgaben der Juden in Rußland für Armen- und Kranken¬
pflege u. tgi. zu bestimmen hatte. Allmählich entstand aus dieser Institution eine
Art Jesuitenorden, eine heimliche, systematisch geleitete Obrigkeit über alle jüdischen
Gemeinden des russischen Reiches und vielleicht auch über die Grenzen desselben
hinaus. Der Kagal dictirt, obgleich er officiell nicht in der obigen Form besteht,
nach Belieben Abgaben, um damit jüdische Interessen zu fördern; er regiert die
Commune, das Schulwesen, ja das Privatleben jeder jüdischen Familie. Er hält
das Eigenthum aller Nichtjuden für das allgemeine Eigenthum der
jüdischen Commune und legt sich das Recht bei, dasselbe zu vertheilen.
Infolge dessen verkauft er gegen Schein und Quittung das Recht, an¬
dere Individuen oder deren liegenden Besitz auszubeuten. Wer ein



*) „Der Kagal", Wilm, 1870, und „Die hebräischen Local- und allgemeinen Vereine,"
Petersburg, 1872.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/168>, abgerufen am 22.07.2024.