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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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gethane Gelübde und Versprechungen damit gemeint, und das scheint richtig zu
sein. Die deutschen Reformgcmeinden haben indeß für gut gehalten, den Brauch
aus dem Abendgebete zu streichen, gewiß aus Gründen, die in der Sache lagen.
Nach zehn Uhr ist der Gottesdienst zu Ende, aber nur um am nächsten Morgen früh
schon wieder anzufangen. Fromme Leute bleiben in der Zwischenzeit in der Synagoge
und fasten, wie den vorhergehenden Tag auch die Nacht hindurch und bis zum folgenden
Abend, ohne auch nur einen Tropfen Wasser über die Lippen zu bringen. Nach
der zweiten Abendfeier des Festes (Nilo) verkündet das Synagogenhorn den Schluß
des Fastens, und die Gemeinde geht erleichterten Herzens nach Hause, wobei man
sich gegenseitig ein gesundes Neujahr und "ein gutes Versiegeltes", d. h. ein günstig
vorherbestimmtes Schicksal, wünscht.

Das Laubhüttenfest (Sukkos), welches einige Tage nach dem soeben beschriebenen
gefeiert wird, war ursprünglich ein Erntefest, später aber sollte es an die Wüsten-
Wanderung erinnern, bei welcher die Kinder Israel nicht in Häusern, sondern in
Zweighütten Wohnten. Neun Tage laug pflegen die polnischen Talmudjuden in
diesen Lauben mit ihren Familien und guten Freunden zu speisen; besonders fromme
schlafen auch darin. In den Synagogen wird an den beiden ersten wie an den
beiden letzten jener Tage mit dein "Lulaw", einem ans drei Myrrhen-, zwei Weiden¬
zweigen und einem Palmwedel bestehenden Strauße in der einen und einem zitronen¬
artigen Zcdernapfel (Esrog) in der andern Hand herumgezogen und mit dem Lulaw
uach Anordnung des Talmud während des Gebets "nach aufwärts, "ach abwärts
und nach allen vier Weltgegenden" gewedelt, weil das "böse Winde und giftigen
Thau fern hält". Am letzten Tage, welcher "Zimches Thora" heißt, herrscht allge¬
meine Lustigkeit auf den Straßen: man schießt, man tanzt hinter den Thorarollen
her, die dort herumgetragen werden, die Kinder laufen mit Lichtern, die in einem
auf einen Stock gespießten Apfel stecken, jauchzend umher, und die Alten sprechen
fleißig der Wein- oder Branntweinflasche zu.

Die übrigen Feiertage übergehen wir. Nur vom Purimfeste, das zum Andenken
an die beiläufig ungeschichtliche, für das Judenvolk aber immerhin sehr charakteristische
Historie von Esther und Ahasver eingesetzt ist, sei noch bemerkt, daß der Talmud
gebietet, bei der in der Synagoge vorzunehmenden Vorlesung dieser Fabel die Namen
der zehn mit ihrem judenfeindlichen Vater gesenkten Söhne Hamans in einem Athem
auszusprechen -- ein Kunststück, welches einige Uebung erfordert.*)

"Nichts ist natürlicher, als daß der dem Juden in so hohem Grade inne¬
wohnende Speculationsgeist, der nur im Erwerben und Besitzen materieller Güter
Genüge findet, auch beim wichtigsten Schritte seines Lebens vorwaltet und ihn bei
der Wahl einer Lebensgefährtin leitet." Mit diesen Worten beginnt Wiener die
drei Aufsätze, die vou den ehelichen Verhältnissen der polnischen Juden handeln,
und in der That entspricht der Inhalt derselben jener allgemeinen Bemerkung viel-



*) Sie heißen nämlich nach Esther 9, 7 bis 9: Parscmdathci, Dalphon, Aspathci,
Poratha, Adalja, Aridatha, Parmastha, Arisai, Aridai und Vaesatha.

gethane Gelübde und Versprechungen damit gemeint, und das scheint richtig zu
sein. Die deutschen Reformgcmeinden haben indeß für gut gehalten, den Brauch
aus dem Abendgebete zu streichen, gewiß aus Gründen, die in der Sache lagen.
Nach zehn Uhr ist der Gottesdienst zu Ende, aber nur um am nächsten Morgen früh
schon wieder anzufangen. Fromme Leute bleiben in der Zwischenzeit in der Synagoge
und fasten, wie den vorhergehenden Tag auch die Nacht hindurch und bis zum folgenden
Abend, ohne auch nur einen Tropfen Wasser über die Lippen zu bringen. Nach
der zweiten Abendfeier des Festes (Nilo) verkündet das Synagogenhorn den Schluß
des Fastens, und die Gemeinde geht erleichterten Herzens nach Hause, wobei man
sich gegenseitig ein gesundes Neujahr und „ein gutes Versiegeltes", d. h. ein günstig
vorherbestimmtes Schicksal, wünscht.

Das Laubhüttenfest (Sukkos), welches einige Tage nach dem soeben beschriebenen
gefeiert wird, war ursprünglich ein Erntefest, später aber sollte es an die Wüsten-
Wanderung erinnern, bei welcher die Kinder Israel nicht in Häusern, sondern in
Zweighütten Wohnten. Neun Tage laug pflegen die polnischen Talmudjuden in
diesen Lauben mit ihren Familien und guten Freunden zu speisen; besonders fromme
schlafen auch darin. In den Synagogen wird an den beiden ersten wie an den
beiden letzten jener Tage mit dein „Lulaw", einem ans drei Myrrhen-, zwei Weiden¬
zweigen und einem Palmwedel bestehenden Strauße in der einen und einem zitronen¬
artigen Zcdernapfel (Esrog) in der andern Hand herumgezogen und mit dem Lulaw
uach Anordnung des Talmud während des Gebets „nach aufwärts, «ach abwärts
und nach allen vier Weltgegenden" gewedelt, weil das „böse Winde und giftigen
Thau fern hält". Am letzten Tage, welcher „Zimches Thora" heißt, herrscht allge¬
meine Lustigkeit auf den Straßen: man schießt, man tanzt hinter den Thorarollen
her, die dort herumgetragen werden, die Kinder laufen mit Lichtern, die in einem
auf einen Stock gespießten Apfel stecken, jauchzend umher, und die Alten sprechen
fleißig der Wein- oder Branntweinflasche zu.

Die übrigen Feiertage übergehen wir. Nur vom Purimfeste, das zum Andenken
an die beiläufig ungeschichtliche, für das Judenvolk aber immerhin sehr charakteristische
Historie von Esther und Ahasver eingesetzt ist, sei noch bemerkt, daß der Talmud
gebietet, bei der in der Synagoge vorzunehmenden Vorlesung dieser Fabel die Namen
der zehn mit ihrem judenfeindlichen Vater gesenkten Söhne Hamans in einem Athem
auszusprechen — ein Kunststück, welches einige Uebung erfordert.*)

„Nichts ist natürlicher, als daß der dem Juden in so hohem Grade inne¬
wohnende Speculationsgeist, der nur im Erwerben und Besitzen materieller Güter
Genüge findet, auch beim wichtigsten Schritte seines Lebens vorwaltet und ihn bei
der Wahl einer Lebensgefährtin leitet." Mit diesen Worten beginnt Wiener die
drei Aufsätze, die vou den ehelichen Verhältnissen der polnischen Juden handeln,
und in der That entspricht der Inhalt derselben jener allgemeinen Bemerkung viel-



*) Sie heißen nämlich nach Esther 9, 7 bis 9: Parscmdathci, Dalphon, Aspathci,
Poratha, Adalja, Aridatha, Parmastha, Arisai, Aridai und Vaesatha.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/162>, abgerufen am 22.07.2024.