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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal.

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Überraschung an, wie sie uns der Ausfall der englischen Aprilwahlen bereitete.
Nehmen wir an, daß sich auf Grund derselben ein Ministerium bildete, welches
das Heil Großbritcmiens in einer Politik sähe, die das entschiedene Widerspiel
der von Lord Beaconsfield verfolgten wäre und namentlich in der Frage
wegen der Zukunft der Balkanländer andere Wege ginge, als der Führer der
Conservativen bisher gegangen ist. Gesetzt, Gladstone oder Hartington oder
Granville entschlössen sich, aus Liberalismus auf eine Zerschlagung der Türkei
und eine "Befreiung" der christlichen Völkerschaften Bulgariens, Macedoniens
und Bosniens hinzuarbeiten und sich zu dem Zwecke mit Rußland zu ver¬
ständigen, und Italien, mit dem die englischen Liberalen immer Liebesblicke
tauschten, schlösse sich, vom Gedanken der "Erlösung" Welschtirols, Triests und
Dalmatiens getrieben, den gegen die Natur verbündeten beiden Mächten an, so
gäbe das immer noch keine große Gefahr für die durch das deutsch-östereichische
Bündniß gewonnene Stellung der beiden Großstaaten Centraleuropas. Je mehr
England sich Rußland näherte, desto weiter würde es sich nicht bloß von
seinen eigenen Interessen im Morgenlande, sondern auch von Frankreich entfernen.
Es entstände dann im Orient eine Combination, welche die dortigen französi¬
schen Interessen bedrohte, die wesentlich anderer Art als die russischen einerseits
und die brittischen andererseits sind. Es wäre keineswegs unmöglich, daß Frank¬
reich sich dann nach anderen Freunden umhabe und dabei auch frühere Feinde
nicht verschmähte. Nichts weniger als undenkbar wäre es, daß es in jenem
Falle zu einer Verständigung zwischen Paris, Wien und Berlin käme. Was
wir dabei zu bieten hätten, ist mit Bestimmtheit noch nicht zu sagen, wohl aber,
was nicht. Elsaß-Lothringen würde es sicher nicht sein, aber vermuthlich --
etwas Anderes.

Italien würde schlecht dabei fahren. Es ist weniger durch eigene Kraft
als durch Andere eins geworden, es ist groß geworden durch Wunder, wie der
Fischer und seine Frau im Märchen vom Goldfisch groß und immer größer
wurden. Es war boshaft, aber wahr, wenn ein russischer Diplomat von den
Italienern, als sie 1870 Rom beanspruchten, bemerkte: "Was? Schon wieder
ein Stück Land haben wollen, und haben doch noch keine Schlacht verloren?"
Diese unablässige Begehrlichkeit der italienischen Politik, der Geistesverwandten
der Frau Jlsebill in jenem Märchen, könnte zuletzt auch das Schicksal treffen,
welches der niemals zufrieden zu stellenden Fischersfrau zu Theil wurde.
"Oesterreich und Frankreich würde eine Verständigung über Italien nicht schwer
fallen, und es könnte sich in Folge dessen ereignen, daß der Kirchenstaat und
das Königreich beider Sicilien wieder hergestellt würden."




Überraschung an, wie sie uns der Ausfall der englischen Aprilwahlen bereitete.
Nehmen wir an, daß sich auf Grund derselben ein Ministerium bildete, welches
das Heil Großbritcmiens in einer Politik sähe, die das entschiedene Widerspiel
der von Lord Beaconsfield verfolgten wäre und namentlich in der Frage
wegen der Zukunft der Balkanländer andere Wege ginge, als der Führer der
Conservativen bisher gegangen ist. Gesetzt, Gladstone oder Hartington oder
Granville entschlössen sich, aus Liberalismus auf eine Zerschlagung der Türkei
und eine „Befreiung" der christlichen Völkerschaften Bulgariens, Macedoniens
und Bosniens hinzuarbeiten und sich zu dem Zwecke mit Rußland zu ver¬
ständigen, und Italien, mit dem die englischen Liberalen immer Liebesblicke
tauschten, schlösse sich, vom Gedanken der „Erlösung" Welschtirols, Triests und
Dalmatiens getrieben, den gegen die Natur verbündeten beiden Mächten an, so
gäbe das immer noch keine große Gefahr für die durch das deutsch-östereichische
Bündniß gewonnene Stellung der beiden Großstaaten Centraleuropas. Je mehr
England sich Rußland näherte, desto weiter würde es sich nicht bloß von
seinen eigenen Interessen im Morgenlande, sondern auch von Frankreich entfernen.
Es entstände dann im Orient eine Combination, welche die dortigen französi¬
schen Interessen bedrohte, die wesentlich anderer Art als die russischen einerseits
und die brittischen andererseits sind. Es wäre keineswegs unmöglich, daß Frank¬
reich sich dann nach anderen Freunden umhabe und dabei auch frühere Feinde
nicht verschmähte. Nichts weniger als undenkbar wäre es, daß es in jenem
Falle zu einer Verständigung zwischen Paris, Wien und Berlin käme. Was
wir dabei zu bieten hätten, ist mit Bestimmtheit noch nicht zu sagen, wohl aber,
was nicht. Elsaß-Lothringen würde es sicher nicht sein, aber vermuthlich —
etwas Anderes.

Italien würde schlecht dabei fahren. Es ist weniger durch eigene Kraft
als durch Andere eins geworden, es ist groß geworden durch Wunder, wie der
Fischer und seine Frau im Märchen vom Goldfisch groß und immer größer
wurden. Es war boshaft, aber wahr, wenn ein russischer Diplomat von den
Italienern, als sie 1870 Rom beanspruchten, bemerkte: „Was? Schon wieder
ein Stück Land haben wollen, und haben doch noch keine Schlacht verloren?"
Diese unablässige Begehrlichkeit der italienischen Politik, der Geistesverwandten
der Frau Jlsebill in jenem Märchen, könnte zuletzt auch das Schicksal treffen,
welches der niemals zufrieden zu stellenden Fischersfrau zu Theil wurde.
"Oesterreich und Frankreich würde eine Verständigung über Italien nicht schwer
fallen, und es könnte sich in Folge dessen ereignen, daß der Kirchenstaat und
das Königreich beider Sicilien wieder hergestellt würden."




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157679/137>, abgerufen am 22.07.2024.